Tiger Unter Der Stadt
ein zerschmettertes Bein, Tante Tiger einen Raubtierkörper
… aber er durfte nicht abschweifen, es ging jetzt um Vera.
»Warum ist die überhaupt bei uns?«, fragte Jonas.
»Ihre Mutter kann sich nicht mehr um sie kümmern, das weißt du doch«, sagte sein Vater und kratzte sich jetzt mit beiden Händen
am Kopf.
»Aber warum?«
»Das soll Vera dir selbst erzählen.«
»Wenn ich sie danach frage, haut sie mir eine runter.«
Es war zwar ein schlechter Zeitpunkt – Lippe wartete bestimmt schon, und Tante Tiger erst recht –, trotzdem war Jonas froh,
dass sie endlich mal über Vera sprachen. Der Boxer in seinem Kopf ließ die Fäuste sinken; das war kein Kampf, sondern ein
Gespräch.
Jonas’ Vater schwieg, sah Jonas an und nahm einen Schluck Bier.
|166| »Deine Schwester hatte es nicht besonders gut bei ihrer Mutter, hat wohl öfter eine gefangen. Irgendwann hat sie zurückgeschlagen,
aber so, dass die Mutter ins Krankenhaus musste. Und da …«, der Vater biss sich auf die Lippen, »… da hat meine frühere Frau
gesagt: ›Geh zu deinem Vater und hau dem eine rein‹, und hat Vera rausgeschmissen. Dann ist sie zu uns gekommen.«
Jonas starrte still vor sich hin. War Vera deswegen so brutal, weil sie eine brutale Mutter hatte? Oder einen Vater, der sie
alleingelassen hatte? Oder beides?
»Hättest dich eben besser um sie kümmern müssen«, sagte Jonas und wusste nicht genau, wen er meinte. Vera, Veras Mutter oder
beide. Er spürte Wut aufsteigen auf diese andere Familie, von der er gar nichts wissen wollte, und auf sich selbst, weil er
nicht mehr wusste, wer an was schuld war. Und jetzt ergriff er sogar für Vera Partei, so weit war es schon.
»Hast ja recht«, murmelte der Vater. »Aber sie ist trotzdem komischer als sonst.«
»Sie ist verknallt!« Jonas wollte endlich weg.
Das Gesicht seines Vaters zog sich zu einem Grinsen auseinander. »Wirklich? Dann versteh ich einiges. Hätte ich auch selber
draufkommen können. Klar, das Mädchen ist verschossen. Kenn ich den Kerl?« Seine Stimme klang plötzlich barsch.
»Arbeitet im Supermarkt«, sagte Jonas.
»Wo hat sie den denn her?«
»Das soll sie dir selbst erzählen.« Jetzt grinste Jonas. |167| »Ich muss noch mal weg, Lippes Mutter ist krank, ich helf ihm, seine kleinen Schwestern zu füttern und ins Bett zu bringen.«
»Es gibt bald Abendessen.«
»Bin rechtzeitig wieder da.« Manchmal ging es nicht anders, da musste man lügen. Jonas stand auf und ging zur Küchentür. »Wart
mal …«
Der Vater stemmte sich hinter dem Küchentisch hervor und kam auf Jonas zugehumpelt. Es half nichts, Jonas musste stehen bleiben
und warten. Gequält sah er zu seinem Vater hoch.
»Hast es eilig, was?«, grinste sein Vater.
Langsam schob er Jonas die linke Hand entgegen, griff mit der rechten nach dem linken Handgelenk und öffnete den Verschluss
seiner Taucheruhr. Er ließ sie in die rechte Hand gleiten und hielt sie Jonas hin. »Da, damit du auch weißt, wann du zurück
musst.«
»Aber Papa, deine Uhr …«
»Nimm sie mit. Wenn’s wirklich eng wird, musst du wissen, wie viel Zeit du noch hast.« Er zwinkerte Jonas zu und für einen
Augenblick sah Jonas das ledrige Gesicht des Schlittenfahrers vor sich. Gab es eine Ähnlichkeit zwischen den beiden oder wünschte
er sich das nur? »Ich bring sie dir wieder …«, sagte er und schluckte.
Im Aufzug, auf der Fahrt in den Keller, verstellte Jonas den Verschluss des breiten Stahlarmbands, damit ihm die Uhr nicht
dauernd über das Handgelenk rutschte. |168| Sie war groß und schwer, das Zifferblatt leuchtete dunkelblau, Zeiger und Stundenmarkierungen glänzten golden. Es war jetzt
genau elf Minuten vor acht. Jonas stutzte; er konnte überhaupt nicht mehr rechtzeitig zu den Nachrichten und zum Abendbrot
zurück sein. Unmöglich. Und sein Vater musste das gewusst haben. Und er hatte ihm sogar seine Uhr gegeben – fast so, als wollte
er sagen: ›Jetzt hast DU die Zeit. Nimm dir, so viel du brauchst.‹
Das Gewicht an seinem Handgelenk war ungewohnt, fühlte sich aber gut an, fast als würde die Uhr ihn beschützen.
Jonas stellte sich vor, im Auftrag seines Vaters unterwegs zu sein; sie mussten in die Kanalisation steigen und ein Kätzchen
retten, genau wie sein Vater es damals getan hatte.
Im Keller fand Jonas die kurze Brechstange und in einer Ecke, säuberlich aufeinandergestapelt, die drei roten Schwimmwesten
mit der breiten Aufschrift: FEUERWEHR. Sein Vater
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