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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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Hinterpranken und blickte wie die beiden Jungen nach oben zu dem schwarzen Rechteck, in dem zwei Sterne wie ein
     spöttisches Augenpaar blitzten. Ihre Ohren drehten sich die ganze Zeit hin und her.
    »Ich höre Musik«, schnurrte sie plötzlich. »Ein Akkordeon.«
    »Ja«, sagte Jonas, »ich hab’s auch gehört. Da ist irgendwas los.«
    »Bestimmt die Klärwerksparty, vor der uns die Kaugummihühner gewarnt haben«, grinste Lippe. »Tante Tiger, haben Sie eigentlich
     die Ratte erlegt? Ich brauch nämlich ihren Skalp.« Er zwinkerte Jonas zu.
    »Erinnere mich nicht an dieses schreckliche Tier«, fauchte Tante Tiger.
    »Entschuldigung!« Lippe schwieg einen Moment und sah Tante Tiger dann ernst an. »Könnten Sie vielleicht da oben rausspringen?«
    »Ich meine doch«, sagte Tante Tiger und wiegte ihren mächtigen Schädel sanft hin und her.
    Lippes Augen leuchteten. »Ich hab da eine Idee. Komm, Nase, wir müssen das Boot rausziehen.«
    |195| Jonas glaubte weder, dass Tante Tiger durch die enge Luke springen konnte, noch dass Lippe eine brauchbare Idee hatte, aber
     etwas tun war besser, als Löcher in die Luft zu starren.
    Sie zogen das vollgelaufene Boot, das sie nach Tante Tigers Rettung notdürftig gesichert hatten, aus dem Kanal und leerten
     es aus. Zum ersten Mal musste Jonas die stinkende Brühe nicht nur riechen, sondern auch berühren. Zum Glück zog Lippe zwei
     Paar weiße Gummihandschuhe aus seiner Jacke. »Die benutzen sie im Krankenhaus auch beim Operieren«, sagte er dazu. »Schützt
     vor Infektionen.«
    Sie tasteten in der trüben Soße nach den Stricken, um das Boot aus dem Kanal zu ziehen. Ihre Gummihände waren schon nach den
     ersten Handgriffen braun verschmiert. Jonas hätte sich bestimmt übergeben, wenn ihm nicht noch der Gedanke gekommen wäre,
     dass auch eine Menge Erbrochenes in dem Kanal war; das hielt ihn aus irgendeinem Grund zurück. Schlecht war ihm trotzdem.
    Als sie das Boot umdrehten, fiel ein Schuh heraus.
    »Du willst doch die ganze Zeit andere Schuhe«, sagte Lippe. »Hier ist schon mal einer.« Zum ersten Mal, seit sie den schmalen
     Schacht hinuntergestiegen waren, mussten sie lachen. Dann knoteten sie die beiden Seile vom Schlauchboot ab und banden sie
     aneinander. Das zusammengebundene Seil triefte nur so und überall hingen Papierfasern – aber es hielt. Ein Ende knüpften sie
     zu einer großen Schlinge, das andere zu einer kleinen.
    |196| »Ich nehm das auf keinen Fall in den Mund«, meldete sich plötzlich Tante Tiger. »Auf gar keinen Fall!«
    »Nicht nötig«, sagte Lippe. »Sie müssen nur Ihren Kopf durch die große Schlinge stecken.«
    Tante Tiger knurrte unwillig, ließ sich dann aber doch die größere Schlinge um den Hals legen, nachdem Jonas die Luft aus
     der Schwimmweste gelassen hatte. So schützte die leere Weste den Tigerhals vor dem Seil. Tante Tiger kauerte sich zusammen,
     die Vorderpfoten dicht unter den Leib gezogen. Der große Tigerkörper wurde fast zu einer Kugel, aus der nur noch der Kopf
     ragte; die Augen waren starr auf die Luke über ihr gerichtet. Auch Jonas stand reglos da. Was Lippe tat, wusste er nicht,
     er konnte den Blick nicht von dem Tiger wenden. Die einzige Bewegung, die Jonas wahrnahm, war das wechselseitige Auf und Ab
     der beiden hinteren Tatzen, wodurch das Hinterteil des Tigers langsam hin und her schwang.
    Plötzlich schnellte der gewaltige Körper senkrecht nach oben, streckte sich so weit es nur ging in die Länge und verschwand.
     Es war wie eine Explosion ohne Knall. Jonas sah gerade noch, wie der gestreifte Schwanz durch die Luke gezogen wurde, dann
     baumelte die kleine Schlinge vor ihm in der Luft. Das war alles, was daran erinnerte, dass hier gerade noch ein Tiger gesessen
     hatte. Die Fähigkeiten von Tante Tiger waren fast schon unheimlich.
    Jonas griff nach der Schlinge, spürte durch seine Gummihandschuhe, wie glitschig das Seil war, und klammerte sich mit aller
     Kraft fest. Es gab einen Ruck |197| und er wurde nach oben gezogen. Auch das schien für Tante Tiger kein Problem.
     
    Wie ein Sack, der einem über den Kopf gestülpt wird, umschloss Jonas die Hitze der Nacht. Er rang nach Luft, zog sich den
     Mundschutz vom Gesicht und sank auf den Boden. Die warme Luft roch nach Moder, Erde, Rauch und Honig. Jonas sog diese Gerüche
     ein und war fast betäubt, so ungeheuer gut roch das alles nach der Kanalisation. Da unten, dachte er, da war alles für immer:
     die Dunkelheit, der Gestank, der schmatzende Kanal,

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