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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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hatte ihn mal wieder erwischt.
    |201| Tante Tiger schien es nicht bemerkt zu haben, sie hatte schon wieder das Maul offen und die Augen geschlossen. »Ich glaube,
     es ist der Geruch von einem Ziegenbock oder einem Hammel. Wir sollten uns einmal dort hinüberschleichen.«
    Sie meinte offenbar die Richtung, in die ihr geöffnetes Maul zeigte: zu den flachen Gebäuden.
    »Na gut«, brummte Lippe noch immer verärgert über den Schlag. »Aber zuerst müssen wir mal die Expeditionsausrüstung ablegen
     und uns möglichst gut tarnen.« Er öffnete die Verschlüsse der roten Schwimmweste, deren phosphoreszierende Aufschrift FEUERWEHR
     im Dunklen schimmerte, und warf sie Jonas zu. Jonas ging zu Tante Tiger und zog ihr die Schwimmweste über den Kopf.
    »Danke, Jonas«, schnurrte sie. »Könntest du mich vielleicht etwas kämmen?«
    »Jetzt?«
    »Mein Fell ist bestimmt ganz zerzaust nach dieser fürchterlichen Bootspartie«, raunte Tante Tiger. »Und ich hab mich doch
     jetzt fast zwei Wochen lang nicht gekämmt, immer nur mit der Zunge geputzt. Ich würde gerne einfach etwas gepflegt auftreten,
     verstehst du?«
    Jonas verstand nichts. Seine Frisur war das Allerletzte, woran er im Moment dachte – trotzdem zog er den Kamm aus seinem Rucksack.
    »Vor allem den Kopf«, schnurrte Tante Tiger. »Denn da komm ich nicht mal mit der Zunge hin.«
    Also kämmte Jonas den Kopf. Es war erstaunlich, |202| wie weich und dicht das Fell hinter den Kiefern war, ein richtiger Backenbart, und Jonas kämmte ihn so, dass er weit vom Kopf
     wegstand – so sah es am gefährlichsten aus.
    »Der ganze Boden hier ist bedeckt mit Farn«, sagte Tante Tiger plötzlich. »Ich liebe Farn. Schon als Kind war das so, weil
     mich die zartgefiederten Blätter immer an Federn erinnert haben.«
    Jonas fiel das dicke Buch ein, das auf dem Nachtkästchen in der Wohnung der alten Rosa lag; irgendwas mit
Kosmos
und
Farnen
.
    »Es könnte dorniger Wurmfarn sein«, fuhr Tante Tiger fort, »aber es ist zu dunkel, um das genau zu sagen. Es gibt sehr viele
     verschiedene Arten, weißt du. Den borstigen Schildfarn zum Beispiel oder den herablaufendgefiederten Sumpffarn. Aber alle
     mögen sie es feucht und düster. Deshalb begreife ich nicht, warum er hier so prächtig wächst, unter freiem Himmel, bei der
     mörderischen Hitze jeden Tag. Und nicht nur eine Sorte, sondern viele, das kann ich riechen … Danke, Jonas, das hat gutgetan.
     Jetzt hat der Pelz doch wieder mehr Form und Fülle.« Ohne sich noch einmal umzusehen, schritt sie auf das Blätterdickicht
     zu.
    Mit dem Kamm in der Hand sah Jonas ihr nach. Wie sehr sich ihr Gang verändert hatte! Leicht geduckt mit einer einzigen fließenden
     Bewegung glitt Tante Tiger durch die Nacht. Ihr gestreiftes Fell verschwamm mit den Farnwedeln und vollkommen lautlos schob
     sich der große Leib zwischen die schwarzen Blätter des |203| Dickichts – so wie ein Finger geräuschlos in einem Schokoladenpudding verschwinden kann.
    »Mensch, Nase, schnell hinterher!«, rief Lippe hinter ihm und hastete los.
    »Warte!«, zischte Jonas, aber da war Lippe schon losgestolpert. ›Blödmann‹, dachte Jonas, schob den Kamm, den er noch immer
     in der Hand hielt, in die hintere Hosentasche, kauerte sich auf den Boden und stopfte, so schnell er konnte, die beiden Schwimmwesten
     in seinen Rucksack. Er war gerade dabei, die Schnallen zu schließen – da hörte er ein Knacksen oder Rascheln. Es war so leise,
     dass Jonas nicht genau sagen konnte, aus welcher Richtung das Geräusch gekommen war. Er hob den Kopf.
    Ein Stück von der Stelle entfernt, an der Tante Tiger und Lippe verschwunden waren, stand eine Gestalt. Sie musste fast im
     selben Moment aus dem Dickicht getreten sein, in dem Lippe darin verschwunden war. Jonas dachte zuerst, es sei ein Tier. Allerdings
     fiel ihm kein Tier ein, das so aussah, bis er erkannte, dass es ein gebückter Mensch war. Der eine Arm berührte den Boden,
     der andere hielt etwas Weißes umklammert. Zwischen den Armen pendelte der Kopf. Das Gesicht konnte Jonas kaum erkennen, weil
     das Haargestrüpp um den Kopf einen tiefen Schatten warf. Jetzt setzte sich die Gestalt in Bewegung. Sie ging mit kleinen Schritten
     und tief gebeugten Knien. Der Oberkörper hing vornüber und der Kopf mit dem wirren weißen Haar streckte sich auf Höhe der
     Hüfte nach vorn. Jonas entgegen.
    |204| Obwohl die Schritte sehr steif waren, kam es Jonas vor, als ob sich die Gestalt an ihn heranschlich. Er ließ den

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