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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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Rucksack
     los und richtete sich auf. Die Gestalt kam näher. Manchmal zuckte sie zusammen, als ob sie Schmerzen hätte; dabei richtete
     sie sich kurz auf, sodass Jonas ein faltiges altes Gesicht erkennen konnte. Manche der Bewegungen erinnerten ihn an seine
     Oma, wenn sie mit einem Stock durch die Wohnung humpelte. Von dieser Gestalt ging aber etwas ganz anderes aus, etwas Lauerndes.
     Trotz ihrer Gebrechlichkeit war sie bedrohlich. Jonas’ Herzschlag beschleunigte sich.
    Obwohl er größer, schneller und wahrscheinlich stärker war, hatte er Angst. Und je näher die Gestalt kam, desto schlimmer
     wurde es. Unwillkürlich wich Jonas zurück. Die Gestalt folgte ihm. Plötzlich hörte Jonas hinter sich ein Zischen und Blubbern.
     Er warf einen Blick über die Schulter und sah, dass er am Rand des großen Klärbeckens stand.
    Die Gestalt war jetzt nur noch ein paar Meter entfernt. Jonas meinte trotz des Zischens der Blasen einen rasselnden Atem zu
     hören. Er sah jetzt auch, dass die Gestalt ein zerfetztes Kleid trug und darüber eine Art dünne Strickjacke, die noch mehr
     in Fetzen hing als das Kleid. Eine alte Frau!
    Die Alte stand jetzt vor ihm. Er konnte die einzelnen steifen Haarzotteln unterscheiden, die in Stacheln und dicken Nestern
     von ihrem Kopf abstanden. ›Warum kämmt sie sich nicht?‹ Wie ein Kreisel drehte sich diese Frage in Jonas’ Kopf: ›Warum kämmt
     sie sich nicht?‹, ›Warum, warum, warum‹ …
    |205| Jetzt hob die Gestalt den Kopf, sodass Jonas zum ersten Mal ihre Augen sah. Sie schimmerten wässrig und trüb, aber ihr Ausdruck
     hatte nichts Freundliches, Trauriges oder Wirres, wie Jonas es von alten Menschen kannte, sondern sie fixierten ihn mit kalter
     Aufmerksamkeit. Jonas starrte in diese Augen und verstand überhaupt nichts mehr. Es war der Blick des Tigers! Nur dass hinter
     diesen Augen eine Wildheit lauerte, die Tante Tiger fehlte.
    Da richtete sich die Alte etwas auf, ein eigenartig dumpfes Krächzen kam aus ihrer Kehle, gleichzeitig fiel ihr der Mondschein
     ins Gesicht. Das Gesicht erinnerte Jonas an etwas, aber er wusste nicht, an was.
    »Brauchen Sie vielleicht einen Kamm?« Jonas wusste selbst nicht, warum er das sagte. Er zog den Kamm aus der Hosentasche.
     Die Alte stieß eine Art brüchiges Fauchen aus und warf den Kopf in den Nacken. »Hier, bitte. Sie können ihn mir später wiedergeben.«
     Jonas streckte der Alten die Hand mit dem Kamm entgegen.
    Mit einer Schnelligkeit, die Jonas ihr nicht zugetraut hätte, riss die Alte ihren Arm nach oben. Der Schreck lähmte Jonas,
     es war, als ob die Zeit für einen Augenblick stillstünde, und in diesem einen Moment erkannte Jonas jede Einzelheit: die Rosenblüten,
     mit denen das zerrissene Kleid bestickt war; die wenigen Zahnstümpfe, die in dem entblößten Kiefer der alten Frau steckten;
     die Zinken an dem weißen Plastikgegenstand, den die Hand über ihm umklammert hielt …
    Ein brennender Schmerz auf der linken Wange ließ |206| Jonas taumeln. Er ruderte mit den Armen durch die Luft, balancierte einen Moment auf der Kante des Beckens – und kippte langsam
     nach hinten. ›Das war eine Gabel‹, dachte er im Fallen. ›Die Alte hat mir eine Plastikgabel übers Gesicht gezogen!‹
    Dann spürte er Nässe und unzählige sprudelnde Blasen. Die Flüssigkeit um ihn herum brodelte und knatterte, als ob er in einen
     Topf mit kochendem Wasser gefallen wäre. Gleichzeitig war es kühl. Jonas konnte nichts sehen, Schwärze umgab ihn. Kleine Teilchen
     oder Fasern, ähnlich wie Schneeflocken, legten sich auf seine Haut. ›Scheiße‹, schoss es ihm durch den Kopf. ›Das ist ein
     Klärwerk und das ist die Scheiße.‹ Er schob den Gedanken weg und zwang sich, Grünkohl zu denken: Es ist Grünkohl. Jonas strampelte
     mit Händen und Füßen, um wieder nach oben zu kommen, aber seine Tritte und Schläge fanden einfach keinen Widerstand. Zu viel
     Luft war im Wasser. Jonas sank tiefer und tiefer. Seine Lungen fingen an zu brennen. ›LUFT!‹, war Jonas’ einziger Gedanke.
     Gleichzeitig hörte er ein Brummen und spürte, wie er von einem Wirbel erfasst wurde. Jonas wusste nicht mehr, wo oben und
     unten war, wusste überhaupt nichts mehr, nur, dass er gleich den Mund aufreißen und Atem holen würde … Da huschte ein Lichtpunkt
     an seinem Auge vorbei; Jonas konnte ihn steuern. Der Lichtpunkt klebte an seinem Arm, nicht nur einer, sondern mehrere, die
     einen Kreis bildeten. Die Taucheruhr! Sein Vater! Die

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