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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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die huschenden Ratten. Dagegen war die Nacht um Jonas herum licht und
     freundlich. Sein Blick fiel auf die Uhr an seinen Arm. Es war nur eine Stunde vergangen, seit er in dem Loch im Asphalt verschwunden
     war. Eine Stunde so lang wie die Ewigkeit.
    Jonas richtete sich langsam auf und sah sich um.

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    |198| Die Klaue mit der Plastikgabel
    Als Lippe endlich auftauchte, stand Jonas’ Mund noch immer vor Staunen offen.
    Zwischen kniehohen Pflanzen, die nur aus spitzen gefiederten Blättern zu bestehen schienen, lagen vier kreisrunde Teiche.
     Zum Mittelpunkt der Teiche führte jeweils ein stählerner Steg mit einem Geländer. Jonas wurde bald klar, dass es künstliche
     Becken waren. Jeweils zwei der Becken waren genau gleich groß. Die beiden kleinen Becken lagen glatt und schwarz zwischen
     den Pflanzenwedeln. Die Flüssigkeit in den großen Becken schien zu brodeln.
    Nur einige Meter entfernt lag eines dieser Becken; ein blubberndes Zischen stieg von dort auf. Das Geräusch mischte sich mit
     der Musik, die noch immer wie Rauchschwaden über das Gelände wehte, mal lauter, dann wieder leiser.
    Jonas drehte sich um, hinter ihm stand Lippe. In seinen weit aufgerissenen Augen spiegelten sich die vier Becken und darüber
     strahlte ein weißes Licht.
    »Mensch, Lippe, mach die Lampe aus!«, flüsterte Jonas. »Das sieht doch jeder.«
    »Hast recht«, sagte Lippe nach einem Moment, griff sich mit einem Ruck an die Stirn und drehte das Licht ab. »Wir müssen aufpassen.«
    »Ja, aber worauf?«
    |199| »Auf alles.« Lippe starrte noch immer auf die Becken. »Alles kann damit zu tun haben. Vielleicht ist das da ein Verwandlungsbad,
     du steigst als Mensch rein und kommst als Tiger wieder raus … oder als Ziege.«
    Wo steckte eigentlich der Tiger? Jonas riss sich vom Anblick der Becken los. Zum Glück stand noch immer der Mond am Himmel.
     Sein Licht fiel auf das Dickicht aus Blättern, das sich hinter ihnen erhob. Alles schien miteinander verflochten und im fahlen
     Mondlicht warfen die seltsamen Blätter noch seltsamere Schatten, dazwischen helle Flecken, groß wie Teller. Wahrscheinlich
     Blüten. Jonas glaubte sogar, ihren schweren Duft zu riechen. Das war der Dschungel, den sie schon von der anderen Seite des
     Zauns gesehen hatten. Aus diesem Pflanzengewirr war der Tiger gesprungen, als die alte Rosa mit Herrn Teichmann am Klärwerk
     spazieren gegangen war. Eine Gänsehaut breitete sich zwischen Jonas’ Schulterblättern aus. Was, wenn es hier noch mehr Tiger
     gab? Da zwischen den Pflanzenwedeln … da war etwas Großes! Zwischen den vielen Schatten war es kaum zu erkennen. Jonas packte
     Lippe am Arm.
    »Das ist Tante Tiger«, raunte Lippe, während er Jonas den Ellbogen in die Seite rammte.
    Jonas holte tief Luft. Die Hitze, die Feuchtigkeit, das fahle Licht und dieser Ort verwirrten ihn. Ein Glück, dass Lippe und
     Tante Tiger da waren. Auch wenn sich der Tiger seltsam benahm.
    Sein Kopf war weit nach vorn in Richtung der Gebäude gestreckt, die Augen waren geschlossen, die Nase |200| kraus gezogen. Die Lefzen waren nach oben gerollt, sodass die Reißzähne im Mondlicht leuchteten, aus dem halb geöffneten Maul
     hing die Zungenspitze. Es sah aus, als müsste Tante Tiger gleich fürchterlich niesen.
    »Brauchen Sie ein Taschentuch?«, flüsterte Lippe. »Ich hab noch welche.«
    Tante Tiger entspannte sich und wendete den Kopf. »Danke, Philipp, aber ich bin nicht erkältet. Im Gegenteil: Mir geht es
     sehr gut. Wisst ihr, ich habe festgestellt, dass ich mit dem Mund fast noch besser riechen kann als mit der Nase.«
    »Mit dem Mund?« Jonas betrachtete das noch immer offene Tigermaul. »Wie machen Sie das?«
    »Ich weiß es nicht genau. Aber ich kann mit dem Gaumen riechen, fast so, als ob ich die Luft so lange kauen würde, bis sie
     in ihre einzelnen Geruchsnoten zerfällt. Es ist doch ungeheuer, was in so einem Katzenbiest steckt, findet ihr nicht?«
    Im Gegensatz zu Jonas schien sich Tante Tiger ausgesprochen wohl zu fühlen.
    »Ich schmecke Menschenschweiß, gebratenes Fleisch, Wein«, fuhr Tante Tiger mit rauer Stimme fort. »Pflanzen und Blüten, die
     ich noch nie gesehen habe, die feuchte Erde … und Schnee.«
    »Schnee?«, riefen Jonas und Lippe gleichzeitig.
    »Ja. Schnee und Leder. Ein wunderbarer Geruch …« Sie hob wieder den Kopf, zog die Lefzen zurück und die Nase kraus. »Und noch
     etwas liegt in der Luft …«
    »Au!« Das war Lippe. Der wild hin und her schlagende Tigerschwanz

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