Tigermilch
Sonnenbrand auf den Schultern habe. Ich ziehe meinen Schlafanzug an, obwohl ich noch gar nicht müde bin. Jessi liegt mit Mama auf dem Sofa, sie gucken Aktenzeichen XY . Draußen gewittert es, der Himmel hat sich verdunkelt, Regen klatscht auf die ausgetrocknete Straße. Ich mache die Fenster in meinem Zimmer weit auf, um den Gewittergeruch hereinzulassen, da klingelt mein Handy.
Mensch, zum Glück gehst du ran, Jasna steht auf dem Balkon und will springen, sagt Jameelah aufgeregt.
Ich denke, nein, das ist wieder eine von Jameelahs Geschichten.
Ehrlich, sie steht am Rand vom Balkon, obendrauf, und wenn nicht gleich ein Wunder passiert, dann springt sie, der Krankenwagen und die Feuerwehr sind auch schon da.
Ich ziehe mir schnell meine Kapuzenjacke über den Schlafanzug, dann laufe ich über den Spielplatz. Unter meinen Chucks quietscht der nasse Sand. Je weiter ich laufe, desto lauter höre ich die Sirenen, überall Blaulicht und rote Kreuze, der Bürgersteig vor dem Haus ist voller Menschen. Jameelah steht auf der Straße und winkt mir zu, sie hat sich ihre Kapuzenjacke ins Gesicht gezogen. Ich schaue rauf zum Balkon, aber da ist niemand.
Bis gerade eben stand sie noch da, sagt Jameelah, Tarik hat sie in der Wohnung eingesperrt, aber jetzt lässt sie keinen mehr rein. Wir mussten alle auf die Straße, sie hat gedroht, den Gasherd explodieren zu lassen, falls jemand versucht, in die Wohnung zu kommen.
Ich will gerade was antworten, da öffnet sich die Balkontür. Jasna hat sich die langen Haare zu einem dicken Zopf gebunden, er hängt ihr vorn über den Ausschnitt runter bis zur Hüfte, wie in einem Märchen, so als ob jemand Rapunzel, lass dein Haar herunter gerufen hätte. Ihre Hände krallen sich ans Balkongeländer, hennabemalt, blutrot. Um uns herum stehen uniformierte Männer auf der Straße, gelb, rot, blau, sie rauchen Zigaretten und warten, was Jasna als Nächstes macht.
Wie im Fernsehen, sagt Jameelah und zeigt auf die Feuerwehr, die eins von diesen Dingern aufspannt, wo man reinspringen kann, und als ich das sehe, bekomme ich plötzlich einen dicken Kloß im Hals, genau an der Stelle, wo die Narbe vom Luftröhrenschnitt ist, und ich hole tief Luft, so als ob ich für lange Zeit unter Wasser tauchen müsste.
Amir, sage ich, wo ist Amir.
Jameelah hebt ganz langsam ihren Arm, so als wäre auch sie unter Wasser, und mit ihren Lippen formt sie irgendein Wort, ich drehe mich um und sehe Amir und Tarik und Selma und ihre Mutter nicht weit von uns auf dem Bürgersteig stehen, ich gehe auf sie zu, aber irgendwie sind sie schrecklich weit weg, obwohl sie alle ganz in der Nähe stehen, kommt es mir wie eine Ewigkeit vor, bis ich bei ihnen bin.
Amir, sage ich, aber Amir reagiert gar nicht, starrt nur rauf zum Balkon, Tarik, sage ich, aber Tarik reagiert auch nicht. Vorsichtig berühre ich seinen Arm. Als er sich umdreht, muss ich wieder schlucken. Ich habe Tarik noch nie weinen sehen, ich wusste gar nicht, dass er das kann.
Kleine, sagt er und legt seinen Arm um meine Schultern, geh nach Hause, geh schnell nach Hause, aber da wirft Tariks Mutter die Hände vor den Mund und schreit. Ich schaue rauf zum Balkon, Jasna sitzt auf dem Geländer. Ist doch alles nicht so schlimm, denke ich und atme tief durch, ist alles nur ein schlechter Film, ein Porno, und Rapunzel spielt die Hauptrolle. Gleich fangen die Männer, die auf der Straße stehen, Feuerwehrmänner, Rettungssanitäter, Polizisten, an, sich an Rapunzels Haaren nach oben zu ziehen. Es ist ganz einfach, sich das vorzustellen, weil Jasna nichts anhat außer ihrem gelben Bikini.
Dragan, wo bist du, wo ist mein Verlobter?, schreit Jasna.
Kann vielleicht irgendwer diesen Dragan auftreiben, sagt einer der Polizisten zu Tarik, wo ist dieser Mann?
Ich glaube, er ist im Fitnessstudio, sagt Amir leise, ich habe ihn vorhin mit seiner Sporttasche gesehen.
Dann versuchen Sie doch wenigstens mal, mit ihr zu reden, sagt einer der Feuerwehrmänner zu Jasnas Mutter.
Sie soll weggehen, ich will nicht mit ihr reden, schreit Jasna und klettert wieder vom Balkongeländer, sie soll weggehen schreit sie, und dann fängt sie an, allen möglichen Kram vom Balkon herunterzuschmeißen, Sperrmüll, die Wäscheleine und Selmas Kinderwagen, alles landet nach und nach bei uns auf der Straße. Jasnas Mutter weint immer lauter.
Ja, schreit Jasna, jetzt weinst du, aber zuerst, zuerst zerrst du mich hierher auf diese Welt und lässt mich einfach allein, und jetzt, jetzt, wo ich
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