Tigermilch
höre, dass sie die Nase hochzieht und wimmert.
Zuerst denke ich, es ist wieder was Schlimmes passiert, das Haus brennt oder Noura hatte einen Unfall.
Schlimm. Was schlimm ist, das ist doch total relativ, sagt Jameelah, für mich gibt es gerade nichts Schlimmeres, als dass er abgehauen ist, einfach so, ohne ein Wort.
Zuerst kapiere ich gar nicht, wovon sie redet, aber dann, klar, es geht um Lukas, diesen Deppen.
Als ob ich ein Stück Fleisch wäre, das man nicht aufessen will, so ein Dönerrest, den man nicht mehr schafft, weißt du, den man auf dem Teller liegen lässt, zusammen mit der eingesauten Serviette, schnell aufstehen und abhauen, kann doch der Dönermann alles wegwischen.
Quatsch, da gibt es bestimmt eine einfache Erklärung für, sage ich, dabei komme ich mir vor wie dieser blöde Polizeipsychologe, der zu Jasna meinte, dass es für alles eine Lösung gibt.
Vielleicht musste er heute Morgen irgendwohin, sage ich.
Wieso, wohin denn?
Keine Ahnung, vielleicht geht er jeden Freitag zum Tennis oder Squash oder macht was mit seiner Familie. Leute wie Lukas haben immer große Familien. Vielleicht sind die Familien auch klein, aber weil alle sich so mögen, musst du ständig auf einen Geburtstag oder eine Beerdigung oder auf eine, wie heißt das gleich, Babyparty.
Und morgen fährt er an den Gardasee, sagt Jameelah, mit Anna-Lena.
Dann ruf ihn an.
Mann, ich hab doch seine Scheißnummer nicht.
Jameelah seufzt.
Ich wünschte, er würde todkrank werden und erst dann merken, dass er mich liebt. Ich will, dass, wenn er jetzt stirbt, dann will ich, dass unter seinem Bett oder sonst wo ein Kästchen gefunden wird mit einem Foto von mir, ich ausgeschnitten aus dem Gruppenfoto von der Skifreizeit, weißt du, und ein Brief, den er sich nie getraut hat, mir zu geben, und dass ich die Letzte bin, die er sieht, wenn er stirbt, und dass er erfährt, dass ich das Kästchen gefunden habe.
Ich muss zugeben, dass ich nicht wirklich kapiere, was für ein Kästchen das jetzt sein soll, von dem Jameelah redet, aber ich weiß, dass es eine Sache gibt, die ich nicht ertragen kann, und zwar, wenn Jameelah verzweifelt ist. Ist schwierig zu erklären, aber wenn Jameelah verzweifelt ist, dann fängt irgendwie alles an zu zittern, wie bei einem Erdbeben, und Jameelah, die ist wie ein Turm, nicht irgendeiner, ein berühmter Turm, solange der steht, ist alles gut, die Häuser und die weniger berühmten Türme drumrum können ruhig einstürzen, solange Jameelah steht, und deswegen überlege ich wie blöde, was ich jetzt am besten antworte.
Jameelah sagt kein Wort, schnieft nur ab und zu, aber ich bin so furchtbar müde und mein Kopf ist so leer, und da wird es ganz still in der Leitung.
Das klingt jetzt beknackt, sagt Jameelah irgendwann, aber machst du mit mir morgen einen Liebeszauber?
Klar, sage ich.
Wir müssen aber nackt dabei sein.
Nackt? Wieso das denn?
Ja, weißt du, es gibt nur wenige Liebeszauber, die man ohne Haare oder Fingernägel machen kann. Ich habe aber einen gefunden, nur muss man bei dem halt nackt durch einen Blumengarten gehen und Rosenblätter werfen, das wars eigentlich schon. Ach so, dabei muss man noch fest an den Geliebten denken und seinen Namen wiederholen. Aber keine Haare oder sonst was Komisches, Asche in Salat oder so.
Und wo kriegen wir einen Blumengarten her, frage ich.
Ich dachte, wir machen es auf dem Spielplatz, da wachsen ja auch ein paar Blumen.
Nackt?
Ja, es muss eh um Mitternacht sein. Ich meine, das mit dem Blumengarten wird sonst schwierig.
Und die Rosenblätter?
Tiergarten. Müssen ja nicht so viele sein.
Klar, bin dabei.
Natürlich bin ich dabei. Ich bin bei allem dabei, solange das bedeutet, dass Jameelah aufhört, so verzweifelt zu sein.
Am nächsten Morgen klingle ich bei Amir, aber keiner macht auf. Ich klingle noch mal und noch mal, bis Tarik die Tür öffnet. Er sieht müde aus, und mir fällt auf, dass ich ihn, seitdem das mit Jasna war, gar nicht mehr gesehen habe.
Ist Amir da, frage ich.
Ja, aber Amir kann jetzt nicht, Kleine, sagt Tarik, Amir muss zu Hause bleiben und mir helfen.
Kann ich vielleicht kurz mit ihm reden, dauert echt nicht lange.
Nein, Kleine, das geht jetzt nicht, sagt Tarik, wirklich nicht.
Ist irgendwas passiert?
Nein, es ist nichts passiert. Geh nach Hause, geh und genieße deine Ferien.
Und Amir?
Amir hat jetzt andere Sachen zu tun.
Ich gehe über den Spielplatz zurück nach Hause.
Was ist los, denke ich, wieso darf Amir nicht raus,
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