Tijuana Blues
Wahrheit lässt sich nicht aushandeln«, erwiderte er. »Er wird wissen, wie er damit umzugehen hat.«
Morgado sah auf die Uhr an der Empfangstheke. Den Abendflug könnte er noch erwischen. Wenn er gleich packte, könnte er noch am selben Abend in Mexico City landen.
Das Mädchen an der Rezeption übergab ihm eine Nachricht, als er um seinen Zimmerschlüssel bat. Sie kam von dem Jungen aus dem Stadtarchiv: »Kein Dokument gefunden. Nach Informationen des ältesten Angestellten des Archivs wurden alle Dokumente vor mehr als zehn Jahren verbrannt. Auf Anordnung von oben. Tut mir leid.«
Die Schiffe verbrennen wie Cortés, dachte Morgado, die Vergangenheit einäschern, um sie nach unserem Gusto neu zu erschaffen, damit das Verbrechen in Vergessenheit gerät und die Geschäfte weiterlaufen. Erde auf unsere Toten zu schütten, zu begraben, was uns unangenehm ist, darin sind wir Spitze.
13
»Wohin solls denn gehen?«, fragte der Taxifahrer des Hotels beflissen.
»Zum Flughafen«, antwortete Morgado.
Sie waren kaum ein paar Blocks gefahren, als sie Sirenengeheul vernahmen.
»Wozu all die Streifenwagen?«, wollte der Rechtsanwalt wissen.
»Irgendein Streit unter den Cholos. Das kommt ständig vor. In den Slums hier gibt es viele Prügeleien. Oder der Kandidat ist auf Tour. Was weiß ich.«
Morgado betrachtete die von Blechhütten und kaputten Autos bedeckten Hügel, die ungleichen Reihen von Reifen, die als Treppen dienten, die Wände mit den politischen Parolen und den frommen Wünschen von Wohlstand und Demokratie.
Das wahre, vielfältige Gesicht von Tijuana, »der Schrecklichen«, wie Aidé sie nannte, war dort für alle zu erkennen. Ohne Make-up und ohne Kontaktlinsen. Ohne gepanzerte Wagen und ohne Jacuzzis.
»Das nimmt kein Ende«, sagte der Taxifahrer, seinen eigenen Sorgen nachhängend. »Neulich bin ich in eine verdammte Schießerei unter Drogenhändlern in Mesa de Otay geraten. Und ich bin in diesem Monat schon fünfmal überfallen worden.«
Noch mehr Streifenwagen und offizielle Autos mit blinkenden Lichtern verschafften sich hupend Platz. Drei Pick-ups mit bewaffneten Männern an Bord fuhren auf die andere Spur und wären beinahe mit einem Reisebus zusammengestoßen. Ein Krankenwagen zwang das Taxi zu halten, damit er vorbeifahren konnte.
»Der arme Kerl, den es dieses Mal erwischt hat«, seufzte der Taxifahrer. »Wir zählen doch überhaupt nicht. Sie schlagen dich, und niemand reicht dir die Hand. Sie töten dich, und es interessiert niemanden.«
Das Geheul der Polizeiautos wurde immer lauter. Morgado blickte noch einmal zu den Hügeln und konsultierte dann die Uhr: Es war 17.15 Uhr. Ein Frühlingstag in Tijuana.
»Wo sind wir?«, fragte Morgado, der sich in diesen Hügeln verloren fühlte und nicht zu spät zum Flughafen kommen wollte.
»Wo sollen wir sein?«, antwortete der Taxifahrer, gleichermaßen erbittert. »Am Arsch der Welt, im Hintern von Amerika. Da sind wir, mein Freund, und da werden wir bleiben.«
Loverboy
1
Ein verschwommener Baum. Eine abschüssige Straße. Ein weißer Zaun. Ein sich durch eine Staubwolke schlängelnder Pick-up. Letzte gleißende Sonnenstrahlen. Die Karosserie eines Lieferwagens im Schatten. Karge, sich wild im Wind wiegende Pinien. Das Armaturenbrett eines Autos mit grünen und roten Lichtern. Ein kahler Hügel. Ein Chaos. Ein schwer zu erkennender Pick-up, hell- oder dunkelrot. Ein grüner Fleck. Weiße Lichter in der Ferne. Vielleicht ein Dorf. Ein Gut. Allmählich einbrechende Dunkelheit. Eine Hupe, die zwei-, dreimal ertönt. Das Geräusch eines bremsenden Wagens.
Die Kamera trifft auf den Rückspiegel. Wieder verschwommene Bilder, und zum ersten Mal gelingt es demjenigen, der versucht, mit der Kamera anzufangen, was er sieht, etwas zu den künftigen Hörern zu sagen. Die Stimme eines Gespenstes, der Adrenalinpegel am Anschlag:
»Sie haben ihr Ziel erreicht … Ich kann sie von hier sehen … Sie sind vielleicht zweihundert Meter entfernt … Ich stehe im Schutz von ein paar Bäumen … Ich glaube, sie kommen von der Cheyenne herunter … Dort müssen sie die Kinder hinbringen … Es ist eine Ranch … Aber ich weiß nicht welche … bei dem ganzen Gekurve weiß ich nicht mehr, wo ich bin … Wenn ich mich nicht irre, befinde ich mich in der Nähe der Straße nach San Felipe … Aber ich weiß nicht, ob östlich oder westlich … ich sehe Lichter von Lampen … ich werde nachschauen, was los ist …«
Das Video geht weiter: Dunkelheit,
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