Tijuana Blues
unruhiges Treiben. Ein erleuchtetes Fenster und eine Gestalt von hinten. Die Stimme des Gespenstes ist jetzt nur mehr ein Raunen.
»Ich werde die Kamera jetzt hier zurücklassen und nachsehen, was Sache ist …«
Ein Geräusch. Nahe Schritte. Der auf und ab suchende Schein einer Lampe. Eine Flucht. Bilder ohne Ton. Der trockene Klang einer rauen Stimme. Dann deutlich das Geräusch von zwei Schüssen. Die Bilder werden unscharf. Die letzten Sekunden sind nur noch Schatten, Schläge, Stille.
»Das ist alles«, sagte Rechtsanwalt Ismael Contreras zu Morgado.
»Wie, das ist alles?«, erwiderte er. Ihm war noch ganz übel von dem, was er gerade gesehen hatte.
Der kleine Contreras hob die Arme wie Pontius Pilatus. »Das ist alles. Das heißt: Es ist nichts.«
»Erzählen Sie mir, wie Sie an das Video gekommen sind.«
Ismael schaltete den Videorekorder aus und forderte Morgado auf, ihm in ein benachbartes Büro voller Akten zu folgen. »Einen kleinen Whisky, Kollege?«, fragte er zuvorkommend.
»Einen Kaffee mit Brandy, wenn es nicht zu viele Umstände macht.«
Contreras’ Sekretärin machte sich sofort auf den Weg. Jetzt waren sie allein. Morgado dachte völlig zu Recht, dass jetzt der Moment der vertraulichen Informationen und der gegenseitigen Gefallen gekommen war.
»Dieser Fall hat bereits zur Absetzung des Gouverneurs des Staates Baja California und eines Comandante der federales geführt. Und alles ist immer noch absolut rätselhaft. Deshalb sind Sie hier. Das heißt …«
»Das heißt, deshalb sind wir beide hier«, unterbrach ihn Morgado.
Contreras lachte gezwungen. »Die Wahrheit ist, das Video, das Sie gerade gesehen haben, ist absolut nichts wert. Ganz anders als bei dem, das sie von Rodney King in Los Angeles gemacht haben. Dort sieht man alles klar und deutlich. Diese Prügelei ist schon ein Klassiker. Sie zeigen es auf der Polizeischule. Um die Technik zu verbessern, Sie wissen schon.«
Morgado nahm den Scherz hin. Es blieb ihm auch nichts anderes übrig, wenn er in Erfahrung bringen wollte, was es mit dem Video dieses Hobbyfilmers auf sich hatte. »Aber ich vermute, Sie haben mich nicht eingeladen, um über Rodney King zu sprechen.«
»Nun, da vermuten Sie einmal in Ihrem Leben richtig.«
Die Sekretärin trat ohne Ankündigung ein und stellte die Getränke auf den Mahagonitisch. Sobald sie den Raum verlassen hatte, eröffnete Contreras das Spiel. »Als Vertreter der Regierung des Staates Baja California in Mexico City«, hob er schwülstig an, »hat man mir freie Hand gegeben, Sie zu kontaktieren und Ihnen einen Spezialauftrag für diesen Fall zu erteilen, der bis heute ungeklärt ist. Was denken Sie?«
»Dass ich immer noch keinen blassen Schimmer habe, worum es eigentlich geht«, erklärte Morgado. »Erst zeigen Sie mir ein Video ohne viel Sinn. Dann wollen Sie mich anheuern. Und alles, was ich bis jetzt sehe, ist irgendwas Politisches. Ein heißes Eisen, wie man so schön sagt.«
Contreras lächelte und setzte die Miene eines kämpferischen Anwaltes auf, der das Verfahren dank eines Asses im Ärmel schon gewonnen hat. »Man sieht, Sie lesen keine Zeitungen aus Mexicali, Ihrer Heimat.«
Und ohne die Antwort abzuwarten, reichte er Morgado ein Exemplar von La Voz de la Frontera.
»5. April«, las Morgado laut. »Das ist gerade mal eine Woche her.«
»Schauen Sie auf Seite drei im ersten Teil nach. Die Meldung ist rot unterstrichen.«
Morgado las stillschweigend den Artikel. Der Titel sagte alles: »Doktor Fidel Chacón, Ehrenpräsident der Kommission für die Rechte der Kinder, ermordet.« Sie hatten seinen notdürftig begrabenen Leichnam in der Nähe von San Felipe gefunden, nachdem drei Tage zuvor eine Vermisstenanzeige aufgegeben worden war. Man glaubte – oder zumindest schrieb das der Reporter –, dass er von Kinderhändlern ermordet worden war. Frau Doktor Guadalupe Esparza, die Assistentin der Kommission, der der Getötete vorstand, behauptete, dieser wäre den Entführern von Andresito Jiménez auf der Spur gewesen. Im letzten Gespräch habe er ihr versichert, er stehe kurz vor der Lösung des Falles.
»Wer ist Andresito Jiménez?«
Contreras schaute zur Decke ob Morgados Unwissenheit, was die Dinge in Baja California anging. »In Mexicali ist das Tagesgespräch. Und das, obwohl der Fall bereits seit drei Wochen läuft.«
»Nun, ich lebe in Condesa, gegenüber dem Parque México, und die entferntesten Nachrichten, die ich bekomme, sind aus Coyoacán und der Ciudad
Weitere Kostenlose Bücher