Tijuana Blues
Lügen, alles Lügen!«
Nachdem er sich beruhigt hatte, fand Mister Thomas Kaul, ehemals Timothy Keller, die Fotos aus seiner Jugend, die Morgado neben seinem Wodkaglas liegen gelassen hatte. Sofort zerriss er sie mit schmerzlicher, unbezwingbarer Wut. »Ich bin das nicht«, krächzte er. »Ich bin nicht Timothy! Nein!«
»Was willst du mit der Schachtel?«, fragte Morgado.
»Es ist ein Original von Burroughs«, erwiderte Leobardo, überrascht von der Frage des Rechtsanwalts. »Es ist sehr wertvoll. Wie eine Inkunabel.«
»Was ist so toll an der Geschichte eines Drogensüchtigen?«
Leobardo setzte das Gesicht eines Professors vom Ibero-Institut auf, der sich die albernen Reden eines geistig zurückgebliebenen, aber aus reicher Familie stammenden Jünglings anhören muss. » Junkie ist, damit dus weißt, der erste Roman, den Burroughs 1952 veröffentlicht hat. Es war ein voller Erfolg. Zum ersten Mal wird in der Literatur der Versuch gemacht, das Leben eines Drogensüchtigen ohne erhobenen Zeigefinger oder Schuldzuweisungen zu schildern. Es ist wie die Geschichte eines journalistischen Beobachters, der in die Hölle geht und notiert, was er dort sieht und erlebt.«
»Eine Art ›So bin ich eben, und?‹«
»Darin war Burroughs ein Pionier, aber so einfach ist es nicht. Er war einer der Ersten, die das Leben als Horrortrip betrachteten und nicht wegschauten, und er hat auch nicht klein beigegeben, als er unter der Knute seiner eigenen Dämonen leben musste.«
»Sehr poetisch, was du da sagst«, erwiderte Morgado. »Du hattest ja auch kein Wasserglas auf dem Kopf und einen Schuss mitten in den Schädel bekommen wie Joan, seine Frau.«
»Nein, aber …«
Morgado ließ sich nicht unterbrechen: »Wie schön deine Worte klingen: Horrortrip, Gewalt, Dämonen. Aber die Worte bleiben nicht immer auf dem Papier, verschlossen in einer Schachtel. Ich habe gesehen, wie diese Ideen in Männern und Frauen leibhaftig wurden. Die einen töteten, und die anderen wurden getötet. Ich selbst habe die Stimme dieser Dämonen vernommen, mein Freund, und du weißt nicht, wie aufregend es ist, zu tun, was sie verlangen. Die Lust, der Schmerz, der Ekel, den man empfindet, alles auf einmal.«
Leobardo hielt am Taxistand vor dem Hotel Lucerna. »Das Perverse ist auch ein Teil der menschlichen Natur«, sagte er. »Aber das ist nicht das Entscheidende. Burroughs war ein echter Bahnbrecher, ein Mann ohne Verstellung und Heuchelei. Kein verlogener Geschäftsmann wie Mister Kaul, sondern ein Christoph Kolumbus, der die verbotenen Territorien des menschlichen Geistes entdeckte. Er hat sich dorthin aufgemacht und ist zurückgekehrt, um davon zu erzählen. Das ist das Positive an ihm.«
»Kein Zweifel«, sagte Morgado. »Und ich zweifle auch nicht am literarischen Wert von Burroughs. Außerdem hat er in diesem Fall niemandem etwas Böses getan. Er wollte nur eine Kopie seines fertigen Romans an einen Freund schicken. Und dieser Freund hatte nie Gelegenheit hineinzuschauen. Denk daran.«
»Aber ich werde diese Gelegenheit haben. Es ist eine Ehre, ihn im Original lesen zu können.«
Morgado stieg aus dem Auto und drückte dem Chefredakteur von Tijuana Metro die Hand. »Grüß mir Professor Vizcaíno und die gute Ava. Sag ihnen, mit Leuten wie euch gibt es Rettung für Tijuana.«
»Auch ohne uns gibt es Rettung für Tijuana. Sei nicht so pessimistisch, wir Tijuaner können schon auf uns selbst aufpassen. Und was machst du jetzt? Was ist mit deinem Mandanten?«
Morgado wollte keine passende Antwort einfallen. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich werde ihm wohl die Wahrheit sagen müssen. Das ist das wenigste, was ich für ihn tun kann. Ich werde ihm auch die Adresse seines Vaters geben, falls er ihm schreiben oder das Geld haben will. Weißt du, das Schlimmste von allem ist, dass dieser alte Gringo nicht einmal nach dem Namen seines Sohnes gefragt hat oder danach, wie er ist, was er so macht. Nichts. Nicht ein Funken Interesse für seine Mexican family. «
»Glaubst du wirklich, dass der Sohn dieses verdammte Almosen annehmen wird?«, fragte Leobardo.
Morgado dachte an Alfonso Keller Padilla, einen erstklassigen Kunsttischler, und ihm wurde klar, dass El Güero auch ohne den Schutz der Legende vom Vater leben konnte. Er wird im Freien stehen. Er ganz allein, mit seiner verletzten Würde. Aber er ist kein kleines Kind mehr und kann vom Boden aufstehen und sein Leben selbst in die Hand nehmen. Ohne den Schatten seines Vaters.
»Die
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