Tijuana Blues
Haaren schaute auf, als der Mann mit dem arzttypischen Stethoskop um den Hals plötzlich vor ihr stand. Als sie das Gesicht des Doktors sah, war Molly klar, was passiert war, und sie hörte sich geduldig die Predigt über Verantwortung und Schuld an, die sie seit einem Monat zu hören bekam.
»Ich ertrage das nicht, Señora Garduño.«
Die Stimme des Arztes zitterte. Molly rief sich in Erinnerung, dass das völlig normal war, wenn Doktor Aguilera sich zu beherrschen versuchte und ihm das nicht ganz gelingen wollte. Es wird Zeit, ihn auszuschalten, dachte sie. Noch ein Toter, und er geht zur Polizei und singt.
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte die Frau, als ob sie die Antwort nicht kennen würde.
»Das Kind, das die Gringos gestern operiert haben, ist tot. Ich vermute, die Anästhesie war zu stark. Bis heute Morgen war sein Zustand stabil. Es war noch nicht aufgewacht, aber seine Werte waren für einen frisch Operierten seines Alters normal.«
Molly tat, als ob sie in den Papieren auf ihrem Schreibtisch etwas suchen würde. Schließlich hielt sie ein Blatt mit Patientendaten in der Hand. »Meinen Sie Samuel Orozco, männlich, neun Jahre?«
»Genau den.«
»Den man wegen eines Tumors an der rechten Niere operiert hat?«
»Ja. Den.«
Molly sah ihn an. Auf dem Papier war er der Klinikchef. Hinter dem nervösen Ton erkannte sie Zweifel, Verzweiflung, Fluchtinstinkt. Er wirkt wie ein Hase, kurz bevor es ihn erwischt.
»Grämen Sie sich nicht, Doktor. Ich kümmere mich darum. Schicken Sie mir die Krankenakte, und ich reiche sie an das Staatsministerium weiter, falls es das ist, was Ihnen Sorgen bereitet.«
Der Arzt versuchte zu widersprechen, er öffnete zweimal den Mund und nickte dann, durch den zornigen Blick der Frau in die Knie gezwungen. »Ich schicke sie Ihnen sofort, Señora Garduño.«
Und dann zog er sich ohne jeden weiteren Kommentar aus Mollys Büro zurück. Sie hatte kaum das Blatt mit den Patientendaten weggepackt, da kam der nächste Besucher. Ein junger Mann in Krankenpflegeruniform, der im Rhythmus der Musik aus seinem Walkman durch das Büro tänzelte.
»Stell sofort diesen Mist aus und hör mir zu!«, schrie Molly. Man hörte nicht mehr die Spur eines kubanischen Akzents.
Der junge Mann setzte sofort die Kopfhörer ab und steckte sie in die Tasche seines strahlend weißen Kittels.
»Setz dich und hör mir ganz genau zu.«
Der Junge gehorchte. Er wirkte jetzt nicht mehr wie ein flippiger Jugendlicher, sondern wie ein umsichtiger Mann, der wusste, wo er stand und zu was er taugte.
»Der Kleine ist tot. Das weißt du schon, oder?«
Er lächelte und holte eine Spritze aus der anderen Tasche des Kittels. »Gott hat ihn sich geholt«, erklärte er.
»Das ist der Dritte in diesem Monat und der Achtundzwanzigste in diesem Jahr.«
»Und das heißt?«, fragte der Junge.
»Genug für deine und meine Vorlieben, Loverboy.«
Der Junge lächelte wieder, aber seine Augen glänzten nicht, sie blieben wachsam, berechnend.
»Zeit auszuwandern, findest du nicht?«
»Und wohin?«
»Eine andere Grenze. Was ist dir lieber: Ciudad Juárez oder Matamoros?«
»Matamoros nicht. Dort kennt man mich. Gefährlich.«
Molly nickte, als würde sie sich an etwas Schönes aus ihren besten Tagen erinnern. »Ja. Ich erinnere mich. Du hast zu den Satanic Majesties gehört, oder? Vudú und Babalú.«
» Old stories, old wounds. «
»Dann also Juárez.«
»Wann?«
»Sobald du den Kleinen begraben und noch einen Toten dazugelegt hast.«
Der Junge streckte sich. Diesmal glänzten seine Augen. »Den Doktor?«
»Genau den. Wir brauchen ihn nicht mehr. Mach es schön theatralisch. Alle Beweise sollen auf ihn deuten.«
»Kann ich …?«, flüsterte er, und in seiner Stimme lag etwas mehr als ein einfacher Wunsch.
Molly begann die Papiere zu zerreißen, von denen ihr Schreibtisch überquoll, als hätte sie nichts gehört.
»Darf ich oder nicht?«, fragte der Junge noch einmal.
»Die Leichen gehören dir, oder?«
»Ja. Ja«, stammelte er dankbar.
Molly ließ die Papiere liegen, ging zu ihm und küsste ihn lange, bevor sie wie eine strenge Mutter zu ihrem schwierigen Sohn sagte: »Mach mit ihnen, was du willst, aber safer sex, okay?«
5
»Du gehst mir auf die Nerven, Morgado.«
Checo Ortiz schaute ihn mit roten Augen und aschfahlem Gesicht an. »Wer hat dir gesagt, dass du mich um neun Uhr wecken sollst?«
»Einmal im Jahr schadet das nichts«, verteidigte sich Morgado.
»Du weißt genau, dass ich
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