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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu
Autoren: Paul Auster
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Willy nicht ein Glied. Er lehnte an der Wand des Ziegelbaus wie zuvor, mit geschlossenen Augen und leicht geöffnetem Mund, und wenn seinen Lungen nicht stoßweise dieses rostige, knarzende Geräusch entwichen wäre, hätte Mr. Bones glatt annehmen können, sein Herrchen sei schon in die jenseitige Welt entschwunden.
    Dorthin gingen die Menschen, wenn sie starben. Wenn die Seele den Leib verlassen hatte, wurde der Körper im Boden vergraben, und die Seele entschwebte in die jenseitige Welt. Willy ritt nun schon seit Wochen auf diesem Thema herum, und der Hund hegte nicht den geringsten Zweifel daran, daß diese Welt wirklich existierte. Sie hieß Timbuktu, und nach allem, was Mr. Bones herausfinden konnte, lag sie irgendwo inmitten einer Wüste, weit weg von New York oder Baltimore, weit weg von Polen oder irgendeiner der Städte, die sie auf ihren Wanderschaften besucht hatten. Einmal hatte Willy diesen Ort »eine Oase der Seelen« genannt. Ein andermal meinte er: »Dort, wo die Weltkarte endet, fängt Timbuktu an.« Und um dorthin zu gelangen, mußte man offensichtlich ein riesiges Land voller Sand und Hitze durchqueren, das Reich des ewigen Nichts. Mr. Bones schien das eine äußerst gefährliche und anstrengende Reise zu sein, aber Willy versicherte ihm, daß dem nicht so war und daß sie nicht länger dauerte als einen Wimpernschlag. Und sobald man da war, so sagte er, sobald man die Grenze zu dieser Freistatt überschritten hatte, brauchte man sich keine Sorgen mehr ums Essen, Schlafen oder die Verdauung zu machen. Man war eins mit dem Universum, ein winziges Stück Antimaterie im Hirn Gottes. Mr. Bones fiel es durchaus schwer, sich vorzustellen, wie das Leben an einem solchen Ort wohl sein mochte, aber Willy sprach so sehnsüchtig und mit so zärtlicher Stimme davon, daß der Hund schließlich seine Zweifel fallenließ. Tim- buk-tu. Inzwischen machte ihn schon der Klang des Wortes glücklich. Die kantige Kombination von Vokalen und Konsonanten rührte fast immer ans Innerste seiner Seele, und wenn seinem Herrchen diese drei Silben über die Lippen kamen, durchströmte eine Welle seligen Wohlgefühls seinen ganzen Körper- als sei das Wort an sich schon ein Versprechen, eine Garantie dafür, daß alles besser würde.
    Es spielte keine Rolle, wie heiß es dort war. Es spielte auch keine Rolle, daß es dort nichts zu fressen, zu trinken oder zu schnüffeln gab. Wenn Willy dorthin ging, wollte er auch dort sein. Wenn für ihn der Augenblick gekommen war, von dieser Welt Abschied nehmen zu müssen, schien es nur recht und billig, daß er auch im Jenseits mit jener Person zusammen war, die er schon im Diesseits so geliebt hatte. Die Wildtiere hatten bestimmt ihr eigenes Timbuktu, riesige Wälder, in denen sie frei und unbedroht von zweibeinigen Jägern und Fallenstellern herumstreifen konnten, denn Löwen und Tiger waren anders als Hunde, und es ergab ja keinen Sinn, zahme und wilde Tiere im jenseitigen Leben zusammenzuwürfeln. Die Starken würden die Schwachen verschlingen, und in Null Komma nichts wären alle Hunde dort tot und auf dem Weg in ein noch jenseitigeres Leben, ein Jenseits jenseits des Jenseits; was sollte das also? Wenn es auf der Welt so etwas wie Gerechtigkeit gab und wenn der Gott der Hunde irgendeinen Einfluß darauf hatte, was mit seinen Geschöpfen geschah, dann würde der beste Freund des Menschen an der Seite des Menschen bleiben, nachdem besagter Mensch und besagter bester Freund die Kurve gekratzt hatten. Außerdem würden die Hunde in Timbuktu die Sprache der Menschen sprechen und sich mit ihnen von gleich zu gleich verständigen können. Das verlangte die Logik - aber wer wußte schon, ob Gerechtigkeit und Logik in der jenseitigen Welt mehr zählten als in dieser? Willy hatte diesen Punkt irgendwie zu erwähnen vergessen, und weil Mr. Bones’ Name bei all den Gesprächen über Timbuktu nicht einmal gefallen war, nicht ein einziges Mal, befand sich der Hund nach wie vor im unklaren darüber, wohin er denn nun nach seinem eigenen Ableben kommen würde. Was, wenn Timbuktu sich als einer dieser Orte mit tollen Teppichen und teuren Antiquitäten entpuppte? Was, wenn dort gar keine Haustiere erlaubt waren? Das schien nicht möglich, aber Mr. Bones war lange genug auf der Welt, um zu wissen, daß alles möglich war und daß andauernd die unmöglichsten Sachen passierten. Vielleicht war dies auch so eine, und an diesem vielleicht hingen tausend Ängste, Sorgen und ein unausdenkbares Entsetzen,
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