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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu
Autoren: Paul Auster
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das ihn packte, sobald er nur daran dachte.
    Als er gerade wieder in tiefe Niedergeschlagenheit verfallen wollte, begann es unerwartet aufzuklaren. Der Regen hatte aufgehört, die dicht geballten Wolken rissen langsam auf, und der Himmel, der noch vor einer Stunde ganz grau und trüb gewesen war, färbte sich leuchtend bunt, ein scheckiges Durcheinander von rosefarbenen und gelben Streifen, die sich langsam von Westen her über die ganze Stadt zogen.
    Mr. Bones hob den Kopf. Im nächsten Augenblick brach ein Lichtstrahl durch die Wolken, als seien die beiden Ereignisse insgeheim miteinander verknüpft. Er landete wenige Zentimeter vor der linken Pfote des Hundes auf dem Bürgersteig, und fast im selben Augenblick fiel ein zweiter Strahl direkt vor seine rechte Pfote. Auf dem Pflaster vor ihm bildete sich ein Gewirr von Licht und Schatten, das sehr schön anzuschauen war, ein kleines, unerwartetes Geschenk nach all der Trauer und dem Schmerz. Dann sah sich Mr. Bones zu Willy um. Gerade als er den Kopf wandte, ergoß sich ein ganzer Schwall Licht über das Gesicht des Poeten und fiel so hell auf die Lider des Schlafenden, daß er unwillkürlich die Augen aufschlug - und schon war Willy, noch vor einem Augenblick so gut wie tot, wieder zurück im Land der Lebenden, wischte sich die letzten Traumgespinste aus dem Oberstübchen und versuchte aufzuwachen.
    Er hustete einmal, dann noch einmal und ein drittes Mal, bevor er einen längeren Anfall bekam. Mr. Bones stand hilflos dabei, als ihm der Schleim in dicken Pfropfen aus dem Mund flog. Einige landeten auf Willys Hemd, andere auf dem Bürgersteig. Wieder andere, die nasseren und glitschigeren, tropften ihm am Kinn herab. Dort blieben sie dann hängen, baumelten ihm wie Nudeln vom Bart, und während er unter der anhaltenden Gewalt des Hustens heftig zuckte, zusammenfuhr und sich krümmte, wackelten sie in einem verrückten, schrägen Tanz hin und her. Mr. Bones war entsetzt über die Schwere des Anfalls. Das mußte das Ende sein, sagte er sich, mehr konnte ein Mensch doch wohl nicht ertragen. Aber Willy hatte noch immer Mumm in den Knochen, und als er sich erst mit dem Jackenärmel das Gesicht saubergewischt und es geschafft hatte, wieder zu Atem zu kommen, überraschte er Mr. Bones mit einem breiten, beinahe seligen Lächeln. Mühsam bugsierte er sich in eine bequemere Lage, lehnte sich wieder an die Hauswand und streckte die Beine aus. Sobald sein Herrchen sich beruhigt hatte, legte Mr. Bones den Kopf auf dessen rechten Oberschenkel. Als Willy die Hand ausstreckte und ihn tätschelte, kehrte auch wieder etwas Ruhe ins verwundete Herz des Hundes ein. Sie hielt natürlich nur kurz und trog, verfehlte aber trotzdem ihre Wirkung nicht.
    »Leih mir dein Ohr, Bürger Hund«, sagte Willy. »Jetzt geht’s los. Langsam fällt alles von mir ab, eins nach dem anderen, und das einzige, was übrigbleibt, sind Merkwürdigkeiten, Kleinigkeiten von vor langer Zeit, gar nicht das, womit ich gerechnet hätte. Aber Angst hab ich keine. Es tut mir zwar leid, und es ärgert mich, daß ich diesen frühen Abgang machen muß, aber ich scheiß mir wenigstens nicht wie befürchtet in die Hosen. Pack deine Sachen, Amigo. Hier trennen sich unsere Wege, und es gibt kein Zurück. Kannst du mir folgen, Mr. Bones? Verstehst du mich?«
    Mr. Bones konnte ihm folgen, und er verstand ihn.
    »Ich wünschte, ich könnte es dir in wenigen gewählten Worten verklickern«, fuhr der Sterbende fort, "aber das krieg ich nicht hin. Schlagende Epigramme, prägnante Perlen der Weisheit, Polonius’ letzte Worte - so was bringe ich nicht. Wer den Penny nicht ehrt, ist des Dollars nicht wert; spare in der Zeit, dann hast du in der Not. In meinem Oberstübchen herrscht das reinste Chaos, Bonesy, also wirst du mein Gequatsche und meine Abschweifungen einfach ertragen müssen. Es scheint in der Natur der Dinge zu liegen, daß ich verwirrt bin. Und selbst jetzt, wo ich das Schattental des Todes betrete, hängen meine Gedanken im Sumpf von Anno Dunnemal. Das ist des Pudels Kern, Signore. Dieser Wirrwarr in meinem Hirn, der Staub, der Krempel, der überflüssige Krimskrams, der von den Regalen purzelt. Jawoll, Sir, es ist nun mal die traurige Wahrheit, daß ich ein Bär von geringem Verstand bin.
    Und als Beweis präsentiere ich dir die Rückkehr von O’Dell’s Haarbändiger. Vor vierzig Jahren ist er aus meinem Leben verschwunden, und nun, an meinem letzten Lebenstag, taucht er plötzlich wieder auf. Ich sehne mich nach
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