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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Tiefsinn, und was kriege ich? Dieses nutzlose Faktoid, diesen Mikroblitz auf dem Bildschirm meiner Erinnerung. Meine Mutter hat mir das Zeug immer in die Haare geschmiert, als ich noch ein Knirps war, ’n kleiner Springinsfeld. Es wurde beim Friseur verkauft und kam in einer durchsichtigen Glasflasche, etwa so groß. Die Düse war schwarz, glaub ich, und auf dem Etikett prangte das Bild von so einem idiotisch grinsenden Jungen. Einem pausbäckigen, idealisierten Blödmann mit perfekt sitzendem Haar. Auf dem Schädel dieses Hornochsen gab’s nicht eine widerborstige Strähne, und sein Scheitel saß wie ’ne Eins. Ich war fünf oder sechs, und jeden Morgen verpaßte mir meine Mutter diese Behandlung, wohl in der Hoffnung, ich würde dann wie der Zwillingsbruder dieses Schönlings aussehen. Ich hab immer noch dieses glucksende, glitschige Geräusch im Ohr, wenn der Schmadder aus der Flasche kam. Eine weißliche, milchige Flüssigkeit, ’n bißchen klebrig. So ’ne Art verdünntes Sperma, denk ich, aber wer kannte sich denn damals schon mit so was aus? Wahrscheinlich haben sie einfach pubertierende Bengel angeheuert, um Fässer vollzuwichsen. Kostet ’nen Penny in der Herstellung und bringt ’nen Dollar im Verkauf, und den Rest kannst du dir ausrechnen. Also schmierte mir meine polnische Mutter O’Dell’s Haarbändiger aufs Haupt, kämmte mir die widerspenstigen Locken, bis ich aussah wie der Mistkerl auf der Flasche, und schickte mich dann in die Schule. Ich sollte gefälligst Amerikaner werden, und diese Haare sollten wohl signalisieren, daß ich dazugehörte und daß meine Eltern wußten, wo es langging.
    Aber bevor du jetzt in Tränen ausbrichst, Freundchen, muß ich dir noch sagen, daß O’Dell’s Haarbändiger Mist war, ein Schwindel. Er bändigte die Haare nicht, sondern pappte sie regelrecht zusammen. Eine Stunde lang sah das dann einigermaßen aus, aber im Lauf des Vormittags wurde der Schmier hart, und nach und nach verwandelten sich meine Haare wieder in einen Haufen steifer, zugeharzter Drähte - als hätte man mir einen Helm voller Metallfedern über den Kopf gestülpt. Das fühlte sich so komisch an, daß ich einfach nicht die Finger davon lassen konnte. Und während meine rechte Hand sich am Bleistift festhielt und mit den Rechenaufgaben kämpfte, zwei plus drei oder sechs minus fünf, wanderte meine linke nach Norden und prokelte und bohrte an der fremdartigen Oberfläche meiner Haare herum. Gegen Mittag war der Schmier so trocken und ausgehärtet, daß sich jedes einzelne Haar in einen zerbrechlichen Faden verwandelt hatte. Das war der Augenblick, auf den ich gewartet hatte, das Stichwort für den letzten Akt der Komödie. Ich griff ein Haar nach dem anderen an der Haarwurzel, zwickte es zwischen Daumen und Mittelfinger ein und zog. Langsam, ganz langsam fuhren meine Fingernägel die ganze Länge des Haares ab. Aah. Die Befriedigung, die ich dabei verspürte, war einfach unermeßlich. All der Puderstaub, der mir aus den Haaren rieselte. Die Stürme, Blizzards, Wirbelwinde aus reinstem Weiß! Es war keine leichte Arbeit, das kann ich dir flüstern, aber nach und nach verschwand jede Spur von O’Dell’s Haarbändiger. Der Bändiger war gebändigt, und wenn die Glocke zum letztenmal bimmelte und die Lehrerin uns nach Hause schickte, kribbelte mir die ganze Kopfhaut vor Freude. Das war so gut wie Sex, mon vieux, so gut wie all die Drogen und der Schnaps, die ich mir je in die Blutbahn gejagt habe. Ich war erst fünf, aber jeder Tag verwandelte sich in eine Orgie der Selbstreinigung. Kein Wunder, daß ich in der Schule nicht aufgepaßt hab. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, mich zu befummeln, viel zu beschäftigt mit dem Haarbändiger-Wichs.
    Doch genug davon. Genug abgeschweift. Genug abgeschwafelt. Der Haarbändiger ist nur die Spitze des Eisbergs, und wenn ich erst mal mit diesem ganzen Kindheitsschmonzes anfange, sitzen wir in sechzehn Stunden noch hier. Aber die Zeit haben wir nicht, stimmt’s? Keine Zeit für Rizinus, Hüttenkäse, klumpigen Haferbrei und Blackjack-Kaugummi. Wir sind doch alle mit diesem Mist aufgewachsen, stimmt’s, und außerdem interessiert das doch kein Schwein. Alles nur Tapete. Hintergrundmusik. Zeitgeiststaub auf den Möbeln unseres Geistes. Ich kann mir zigtausend Einzelheiten aus dem Gedächtnis kramen, aber wozu? Bringt dir oder mir überhaupt nichts. Hier geht’s doch um Verständnis. Darauf will ich hinaus, Kumpel. Auf den Schlüssel zum Rätsel, auf

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