Time to Die - Stirb noch einmal
die er auf der Bundesstraße geraten war, hatte ihn mit fast 220 Stundenkilometern erwischt. Wenige Minuten später hatte er die Kontrolle über seinen Wagen verloren und war von der Straße abgekommen. Er war durch eine Böschung geschossen, einen kleinen Abhang hinuntergerutscht und schließlich in einen alten Heuschober gekracht. Wenn er nicht angeschnallt gewesen wäre, hätte er den Unfall wahrscheinlich nicht überlebt. So aber kam er mit einem zweiwöchigen Krankenhausaufenthalt und ein paar Monaten Krankengymnastik davon.
Andrew war inzwischen seit über achtzehn Jahren tot; er wäre inzwischen ein junger Mann. Meistens gelang es Deke, seine Trauer um seinen Sohn zu unterdrücken. Nur an zwei Tagen im Jahr – an Andrews Geburtstag, dem 21. Januar, und an seinem Todestag, dem 4. April – vermochte er nach wie vor, an nichts anderes zu denken.
Merkwürdig, wie sehr er doch um dieses Kind trauerte, das er anfänglich überhaupt nicht hatte haben wollen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Abby damals abgetrieben. Er hatte sie nicht geliebt und empfand auch nichts für das Kind, das sie erwarteten. Und trotzdem hatte er versucht, das Richtige zu tun. Sie heirateten. Als Andrew dann geboren wurde, hatte Deke schnell gelernt, ihn zu lieben. Als sein Sohn wenig später starb, wusste Deke nicht, wie er damit umgehen sollte. Lange Zeit konnte er sich seine Schuldgefühle nicht eingestehen. Insgeheim aber haderte er mit seinem Schicksal und fragte sich, ob Gott ihn dafür bestrafte, dass er Andrew zunächst nicht gewollt hatte.
Wenn er nur noch einmal von vorne beginnen könnte …
Es gibt keine zweite Chance, Bronson. Das müsstest du inzwischen wissen.
Jedenfalls würde er niemals die Chance erhalten, seinem Sohn ein guter Vater zu sein. Dieser Fehler würde sich nicht wiedergutmachen lassen. Und auch, was er Lexie Murrough angetan hatte, würde er nicht mehr ändern können. Aber er konnte sich nun um sie kümmern, konnte auf sie achtgeben. Das zumindest schuldete er ihr.
Nachdem er das letzte Gebet des Tages gesprochen hatte, erhob er sich und dehnte seine Arme und Beine. Wenn es nach Sonnenuntergang nicht so kalt wäre, würde er noch eine Runde spazieren gehen. Um nachzudenken. Um einen Weg zu finden, sie davon zu überzeugen, dass sie wichtig für ihn war. Das war sie ja auch. Er brauchte sie – zumindest noch eine Weile. Sie liebte ihn oder machte zumindest den Eindruck, ihm inniglich zugetan zu sein, aber er hatte sie in letzter Zeit einige Male enttäuscht. Er hatte ihr nicht all die Aufmerksamkeit gewidmet, die sie brauchte. Er würde es sich nicht erlauben können, sie erneut zu verärgern. Gleich morgen würde er ihr Blumen kaufen. Frauen schienen Blumen zu lieben, besonders wenn sie sie für ein Zeichen von Liebe hielten. Oder für die Bitte um Vergebung.
Er setzte sich auf einen Barhocker an die Theke, die seine Küchenzeile von seinem Wohnzimmer trennte, und klappte seinen Laptop auf.
Er wartete auf Nachricht von Kalil, dem Mann, den er mehr schätzte als jeden anderen. Wie viele andere war er vor allem wegen Kalil zum Islam übergetreten. Und weil er von den anderen Mitgliedern des Majeed als Bruder aufgenommen werden wollte. Er war streng genommen kein besonders guter Muslim, aber niemand stellte seine Loyalität infrage. Weder dem Majeed gegenüber noch Kalil Ben Riyad, seinem Vaterersatz. Schon bald würde er das größte Opfer von allen für Kalil bringen. Dieser hatte ihn selbst ausgewählt. Er war einer von nur vier Kriegern Gottes, die die großen Taten durchführen sollten, die so kurz bevorstanden. Wie schon sein Vater vor ihm würde er im Namen einer Sache sterben, die größer war als ein einzelnes Menschenleben. Der einzige Unterschied war, dass er selbst sich für seinen Opfertod entschieden hatte, während sein Vater als Märtyrer gestorben war – ermordet von bösen Männern, die seine Stellung missachtet und ihn vor aller Welt und vor den Augen dieses amerikanischen Flittchens Lexie Murrough erniedrigt hatten.
Sein Blick fiel auf den Computerbildschirm. Seine Hand zitterte, als er die Tastatur betätigte. Beim Aufrufen seiner Nachrichten entfuhr ihm ein tiefer Seufzer der Erleichterung. Kalil hatte ihm endlich geschrieben. Er hatte nun seit beinahe zwei Wochen ungeduldig auf Nachricht von seinem Meister gewartet, der ihm mitteilen sollte, wann schließlich der große Anschlag auf das Herz der Vereinigten Staaten stattfinden sollte. Seine Sicht verschwamm für einen
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