Timeless - Schatten der Vergangenheit: Roman (German Edition)
wie? Und wo war Philip?
Wie benommen drehte sie eine Runde durch den Ballsaal. Zwar befand sie sich allem Anschein nach wieder im Empire Room des Waldorf-Astoria, der von denselben französischen Kronleuchtern und Wandleuchtern erhellt wurde, doch alles andere hatte sich vollkommen verändert. Die moderne Dekoration des Herbstballs war verschwunden, und an ihre Stelle waren vergoldete Spiegel und efeu- umrankte europäische Wandteppiche getreten. Wo Michele auch hinsah, erblickte sie Blumen in Hülle und Fülle – eine Flut von Orchideen und Topfpalmen. Rosenblüten schmückten die Kronleuchter und waren am Rand der Tanzfläche verteilt. Selbst der Balkon im Obergeschoss, auf dem anstelle der Jazzband aus dem 21. Jahrhundert nun ein klassisches Orchester spielte, war mit farbenprächtigen Rosen und Grünpflanzen behängt.
Ben, Caissie, Matt und die anderen Mitschüler waren verschwunden, stattdessen wiegte sich eine feierlicher gekleidete Menge aus einer anderen Epoche im Tanz. Anstelle der Teenager, die sich widerwillig Smokings angezogen hatten, waren dies hier allesamt stattliche Herren in Frack und weißen Handschuhen. Und während die Berkshire-Mädchen glänzende Kleider mit möglichst wenig Stoff getragen hatten, tanzten diese Damen ihren Walzer in tief dekolletierten Roben aus Brokat und Samt und waren so prunkvoll mit Juwelen geschmückt, dass einem die Augen übergingen.
Unsichtbar für die Ballbesucher schob sich Michele durch die Menge und suchte nach Philip. Als sie ihn endlich entdeckte, hätten vor Erleichterung fast ihre Knie nachgegeben, doch dann fuhr ihr die Überraschung in die Glieder, als sie ihn lässig mit zwei anderen jungen Männern plaudern sah – ganz so, als würde er hierhergehören.
Philip wandte den Blick in ihre Richtung und sah Michele mit großen Augen an, ein strahlendes, ungläubiges Lächeln legte sich auf seine Züge. Er trug noch immer den Smoking, den er auch zum Herbstball getragen hatte, doch sein Gesichtsausdruck verriet Michele sofort, dass hier der Philip aus der Vergangenheit vor ihr stand. Der Philip, der sich an sie erinnerte und sie liebte.
Eilig entschuldigte er sich bei seinen Freunden und gab Michele ein Zeichen, ihm hinaus auf den Korridor zu fol gen. Mit vor Aufregung wild klopfendem Herzen rannte sie zu ihm. Als sie den ruhigen Seitengang hinter dem Ballsaal erreichten, schloss er sie in die Arme und hob sie jubelnd in die Luft, dann barg er sein Gesicht an ihrem Hals und drückte sie fest an sich.
»Ich bin so froh, dich zu sehen«, raunte Philip.
Er senkte den Kopf, kam näher und näher, bis seine Lippen sanft über ihre strichen.
Michele schmiegte sich enger an ihn, ihre Knie wurden weich, und die Berührung seiner Lippen ließ ihren Magen Achterbahn fahren. Sie schlang die Arme um seinen Hals und erwiderte seinen Kuss leidenschaftlich. Es war Monate her, seit sie sich so nahe gewesen waren, und in diesem Moment war es für Michele unvorstellbar, wie sie es so lange ohne ihn ausgehalten hatte.
»Wie lange ist es her, seit du mich zuletzt gesehen hast?«, fragte sie außer Atem, als sie sich endlich, lächelnd und mit geröteten Wangen, voneinander lösen konnten. »Welches Datum haben wir?«
»Den 19. November 1910«, antwortete Philip und wirbelte sie spielerisch im Kreis herum. »Es ist erst eine Woche her, aber ich habe dich trotzdem furchtbar vermisst.«
19. November 1910 – das war vor unserer Trennung, dachte Michele, als er sie wieder in seine Arme zog. Er weiß noch nicht, dass die Zeit mich zwingen wird, ihm Lebewohl zu sagen. Bei diesem Gedanken traten ihr Tränen in die Augen; sie blinzelte sie fort und klammerte sich bang an diesen glücklichen Augenblick.
»Sind wir im Waldorf?«, wollte Michele wissen.
Philip nickte.
Das heißt, ich bin nicht nur durch die Zeit gereist, sondern auch an einen anderen Ort, staunte Michele, denn sie erinnerte sich, dass das ursprüngliche Waldorf dort gestanden hatte, wo sich ab den 1930er Jahren das Empire State Building befinden würde.
»Mir hat davor gegraut, heute Abend zum Patriarch’s Ball zu kommen. Es fällt mir so schwer, nach außen weiter dieses Mondäne und Leichtfertige zu zeigen und mich so zu geben wie früher, bevor ich dich getroffen habe«, gestand Philip. »Aber du weißt ja, wie man so sagt: Wenn du eine Einladung zu einem Dinner oder einem Ball erst einmal angenommen hast, gilt nur der Tod als Entschuldigung. Und selbst dann muss dein Testamentsvollstrecker an deiner Stelle
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