Timm Thaler
muß nach Haus. Auf Wiedersehn!“
Seine Schulkameraden ließen sich mit dieser Antwort nicht
abspeisen. Sie warteten, bis Timm ein Stück weitergegangen war,
schlichen ihm auf Zehenspitzen nach und rissen ihm plötzlich von
hinten die Hand aus der Tasche.
Zu ihrer Verblüffung flogen Banknoten durch die Luft: Scheine,
auf denen zwanzig, fünfzig, ja, sogar hunderf Mark zu lesen war!
Das war ungewöhnlich, denn Timm wohnte im sogenannten
Armenviertel, und die Jungen wußten das.
„Woher hast du das viele Geld?“ fragte einer.
„Ich hab’ es bei Präsidents vom Wasserwerk gestohlen“, sagte
Timm und wollte trotz seines Zorns lachen. Aber es wurde ein so
freches Grinsen daraus, daß die drei Jungen erschraken. Sie glaubten ernstlich, Timm spräche die Wahrheit; und plötzlich rannten sie Hals über Kopf davon. In der Ferne noch hörte man sie rufen: „Timm
Thaler hat Geld gestohlen! Timm Thaler ist ein Dieb!“
Timm hörte es. Er sammelte traurig die Geldscheine wieder auf
und steckte sie in die Tasche. Dann ging er an den kleinen Fluß, der die Stadt durchfließt, setzte sich auf eine Bank und sah einer
Entenfamilie zu, die sich am Ufer herumtrieb.
Die kleinen Enten watschelten noch etwas unbeholfen durch das
Gras, und am Tag zuvor hätte Timm sicherlich über sie gelacht.
Heute fand er sie nicht einmal komisch. Und das machte ihn traurig.
Er starrte sie an, wie man eine leere Mauer anstarrt, ohne jede
Teilnahme. Und er merkte, daß er an diesem Sonntag ein anderer
Junge geworden war.
Erst als es langsam zu dunkeln begann, wanderte Timm in die
Gasse zurück, in der er zu Hause war.
Vom Anfang der Gasse aus sah Timm vor der Tür seiner
Wohnung die Stiefmutter mit einigen Nachbarn stehen. Sie
schwätzten aufgeregt miteinander; doch kaum wurden sie Timms
ansichtig, als sie wie ein Schwärm Hühner auseinanderstoben und
sich in ihre Wohnungen verkrochen. Aber überall blieben die Türen halb angelehnt, und hinter allen Fenstern, an denen er vorbeikam, bewegten sich die Gardinen.
Die Stiefmutter war vor der halbgeöffneten Tür stehengeblieben
und machte eine Miene, als stehe der Weltuntergang bevor. Aus
kreidebleichem Gesicht starrte ihre gerötete spitze Nase Timm
entgegen. Und kaum war der Junge nahe genug, da ohrfeigte sie ihn ohne ein Wort von beiden Seiten und zerrte ihn ins Haus.
„Wo ist das Geld?“ kreischte sie im Hausflur.
„Das Geld?“ fragte der völlig ahnungslose Timm.
Wieder gab es zwei Ohrfeigen, daß ihm der Kopf dröhnte und
Wasser in seine Augen trat.
„Gib das Geld her, du Nichtsnutz, du Verbrecher! Komm in die
Küche!“
Timm wurde beinahe mitgeschleift. Er wußte noch immer nicht,
was geschehen war. Doch zog er das Geld aus der Tasche und legte
es auf den Küchentisch.
„Himmel, das sind ja Hunderte!“ schrie die Stiefmutter und starrte Timm an, als sei er ein Kalb mit zwei Köpfen.
Zum Glück öffnete sich genau in diesem Augenblick die
Küchentür, und die schnaufende Frau Bebber schob sich herein.
Hinter ihr erschien auch Erwin, der mit großen Augen das Geld auf dem Tisch verschlang.
„Bei Präsidents ist nicht eingebrochen“, pustete Frau Bebber.
„Dort fehlt kein Pfennig!“
Plötzlich begriff Timm den häßlichen Empfang: Er hatte Frau
Bebber zum Scherz erzählt, er werde bei Präsidents vom
Wasserwerk einbrechen. Und den Mitschülern hatte er dasselbe
erzählt. Und sie hatten das viele Geld in seiner Tasche gesehen. Und ihn verpetzt. So war das also.
Er wollte jetzt alles erklären, aber die Stiefmutter tobte wieder einmal ohne Punkt und Komma und lief? ihn nicht zu Worte
kommen: „Also nichtbeiden Präsidents! Danneben woanders.
Wohastedasgeldge – stöhlen? Sagdiewahrheit! Ehedie
Polizeikommt! Alleindergasse wissenbescheid! Sagdie Wahrheit!“
Timm sagte die Wahrheit: „Ich habe das Geld nirgends
gestohlen.“
Diesmal hagelte es Ohrfeigen und Kopfnüsse, bis Frau Bebber der
Stiefmutter in den Arm fiel und den Jungen leise fragte: „Hast du mir nicht erzählt, daß du heute abend die Kuchenrechnung bezahlen
willst, Timm?“
„Die Kuchenrechnung? Washatdas mitder Kuchenrechnung
zutun?“ schrie mit überschnappender Stimme die Stiefmutter.
„Bitte, Frau Thaler, lassen Sie mich ruhig mit dem Jungen reden“, entgegnete die Bäckersfrau.
Heulend sank die Stiefmutter auf einen Küchenstuhl und griff
nach einer Hand Erwins, die der Junge ihr mit Unbehagen ließ.
Frau Bebber fuhr in ihrem Verhör fort:
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