Timm Thaler
sie von der Tür aus nicht
gesehen werden. Als der Kellner kam, bestellte Jonny zwei Viertel Rotwein. Dann zog er links und rechts aus den inneren Brusttaschen seiner Joppe zwei Flaschen Rum hervor, stellte sie unter Timms
Stuhl und sagte: „Hier ist dein Wettlohn. Ich verstecke ihn wegen des Kellners. Er könnte glauben, wir wollten hier mitgebrachte
Getränke süffeln.“
Timm zog jetzt auch etwas aus seiner Brusttasche. Es war der
Brief an Herrn Rickert.
„Würdest du ihn mit nach Hamburg nehmen, Jonny? Ich habe
Angst, ihn der Post anzuvertrauen.“
„Wird gemacht, mein Junge!“ Der Brief wechselte hinüber in die
Steuermannsjoppe. Dann sagte Jonny: „Du siehst jetzt wie ein
richtiger feiner Pinkel aus, Timm. Reichsein macht wohl Spaß?“
„Es ist ein bißchen mühsam“, antwortete Timm. „Aber man kann
sich benehmen, wie man will. Man braucht nie zu lachen, wenn man
nicht mag – außer vielleicht beim Photographen – und das hat viel für sich.“
„Hast du denn was dagegen, wenn man lacht?“ fragte Jonny
verblüfft.
Timm merkte, daß er sich verplappert hatte. Er durfte ja
niemandem verraten, daß er sein Lachen verkauft hatte. Aber ehe er seinen Fehler durch irgendeine harmlose Erklärung wieder
gutmachen konnte, redete Jonny schon weiter. Der Steuermann
schien bei dem Thema Lachen in seinem Fahrwasser zu sein; denn er sprach glatter und sogar ein bißchen feiner als sonst.
„Ich gebe zu“, sagte er, „daß das Lachen aus Höflichkeit einem
auf die Nerven gehen kann. Nichts ist gräßlicher als ein
Seemannsheim, in dem dich von früh bis spät alte Tanten anlächeln.
Sie lächeln, wenn sie dich vor dem Alkohol warnen; sie lächeln,
wenn sie dir Sauerkraut auf den Teller tun; sie lächeln, wenn sie dich zum Beten ermahnen; sie lächeln sogar, wenn sie dir den Blinddarm aus dem Bauch schneiden. Lächeln, lächeln, morgens, mittags und
bei Nacht. Wahrhaftig, das ist unausstehlich! Aber…“
Der Kellner kam mit dem Wein und lächelte die beiden
geschäftsmäßig an. Timm sah mit zuckenden Lippen auf die
Tischplatte nieder, und Jonny merkte verwundert, daß der Junge dem Weinen nahe war. Deshalb schwieg er, als der Kellner wieder
gegangen war. Er hob nur das Glas und sagte: „Prosit, Timm! Auf
dein Glück!“
„Prosit, Jonny!“
Timm nippte nur von dem Wein, der säuerlich schmeckte.
Beim Niedersetzen des Glases brummte Jonny: „Wenn ich doch
herausbekommen könnte, was los ist!“
Timm hatte den gemurmelten Satz verstanden. Er wurde plötzlich
lebhaft und flüsterte: „Versuche, Kreschimir zu sprechen. Er weiß alles, und er darf es dir sagen. Ich kann es nicht. Ich darf es nicht.“
Der Steuermann sah den Jungen nachdenklich an und sagte
schließlich: „Ich glaube, ich weiß, mit wem du es zu tun hast.“ Dann beugte er sich über den Tisch zu Timm vor und fragte eindringlich:
„Hat der Kerl dir Hokuspokus vorgemacht?“
„Nein“, sagte Timm. „Vorgemacht hat er mir nichts; aber er hat
mir einen alten Spruch aufgesagt.“ Und nun er«zählte der Junge dem Steuermann von dem Gespräch im Salon des Hotels, von der
merkwürdigen Beschwörung und von dem heruntergestürzten
Kronleuchter.
Die Geschichte von dem Kronleuchter schien Jonny ungeheuer zu
belustigen. Er brüllte vor Lachen, schlug vergnügt auf die
Tischplatte, daß die Gläser tanzten und der Wein überschwappte,
und prustete: „Das ist ja zum Piepen, Junge! Das ist unbezahlbar!
Weißt du, daß du den Affen damit an seiner empfindlichsten Stelle getroffen hast, Timm? Ernstlich, Kleiner!“
Jonny lehnte sich wieder in seinen Stuhl zurück. „Du konntest
nichts Besseres tun, als den Kronleuchter zu zerdeppern. So was
verträgt dieser Herr nicht! Besonders nicht in solchen
Augenblicken.“
Der Steuermann erhob mit belustigtem Gesicht die Arme, wie es
Lefuet bei der Beschwörung getan hatte, und sprach mit spöttischer Bedeutsamkeit:
„Der Herr der Ratten und der Mäuse, Der Fliegen, Frösche,
Wanzen, Läuse!“
Timm hatte sich unbewußt ebenfalls in seinem Stuhl
zurückgelehnt. Es war für ihn so beruhigend, jemanden über den
Baron lachen und spotten zu hören. Zum erstenmal seit langer Zeit hörte er wieder ein Lachen, das ihm angenehm war.
Bei Jonnys spöttischer Beschwörung hatte Timm den Blick
gesenkt. Er schaute auf den Holzfußboden und sah dort plötzlich
eine ungeheuer fette Ratte, die ein satanisch hohes Pfeifen ausstieß und furchtlos auf Jonnys Beine zulief,
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