Timm Thaler
Erinnerungen an seine Mutter
überschwemmt – hätte fast in einer Verwirrung seiner Gefühle die
Stiefmutter umarmt. Aber er war nicht mehr der arme kleine Junge.
Er hatte gelernt, Unbegreiflichkeiten und Verworrenheiten zu
meistern. Er schob die Stiefmutter sanft und schweigend von sich.
Und sie ließ es geschehen. Sie schluchzte ein bißchen, trippelte zum Tisch, auf dem ihre Handtasche lag, nestelte ein Taschentuch heraus und betupfte sich die falschen Augenwimpern.
Erwin war nun auch aufgestanden. Er schlenkerte auf seinen
Stiefbruder zu, gab ihm eine sehr weiche Hand und sagte: „Tag,
Timm!“
„Tag, Erwin!“
Mehr konnten sie einstweilen nicht sagen; denn die Tür wurde
aufgerissen, und der Baron kam atemlos ins Zimmer.
„Was sind das für Leute?“
Natürlich ahnte der Baron, um wen es sich handelte; und Timm
wußte das. Dennoch stellte er seine ungebetenen Gäste höflich vor:
„Darf ich Sie mit meiner Stiefmutter, Frau Thaler,
bekanntmachen, Baron? Der junge Herr ist mein Stiefbruder Erwin.“
Dann stellte er, betont förmlich und mit der eingelernten
hübschen Handbewegung, seinen Widersacher vor: „Baron Lefuet!“
Die Stiefmutter hob ihre rechte Hand bis beinahe unter das Kinn
Lefuets (anscheinend erwartete sie einen Handkuß) und zwitscherte:
„Sehr angenehm, Herr Baron!“
Lefuet ließ die Hand unbeachtet.
„Spielen wir kein Theater, Frau Thaler! Damit haben Sie, wie es
scheint, sowieso kein Glück gehabt.“
Die Stiefmutter, die schon den Mund geöffnet hatte, um dem
Baron aufgeregt zu antworten, änderte plötzlich ihre Taktik. Sie
wandte sich Timm zu, betrachtete ihn mit süßem Entzücken im
säuerlichen Gesicht, trat einen Schritt zurück und sagte: „Du siehst wie ein richtiger Herr von Welt aus, mein Junge! Ich bin sehr stolz auf dich. In den Zeitungen haben wir alles über dich gelesen, nicht wahr, Erwin?“
Ihr Sohn murmelte – mit deutlichem Unbehagen – eine Art „mja“.
Das Verhältnis zu seiner Mutter schien immer noch dasselbe zu sein.
Verwöhnt und verhätschelt von ihr und an sie gefesselt, weil er
unfähig war, seine Wünsche ans Leben allein zu befriedigen, war
diese Frau ihm gleichwohl peinlich in Gegenwart anderer. Er nutzte ihre Affenliebe aus; aber er ertrug sie schwer.
Timm war jetzt froh, daß die Stiefmutter ihn von dieser Liebe
ausgeschlossen hatte. Sie hätte seine Kraft gebrochen; sie hätte ihn außerstande gesetzt, widerstandsfähig zu bleiben in der Hölle der verflossenen Jahre.
Timm war diese Begegnung so nützlich wie notwendig. Wieder
einmal erkannte er, daß er einen Kreis durchlaufen hatte und wieder am Ausgangspunkt angekommen war, aber um einige Drehungen
höher. Von der Gassenwohnung bis hierher hatte er auf gewundenen
Wegen einen Berg erstiegen, und nun sah er den Anfang des Weges
tief unter sich. Und er sah, daß seine Stiefmutter und Erwin immer noch an derselben Stelle standen und keinen Schritt
weitergekommen waren. Obwohl sie hier im Appartement des Hotels
„Vier Jahreszeiten“ dicht neben ihm standen, waren sie so fern von ihm, daß er kaum ihre Stimmen hörte.
Die Stiefmutter sagte gerade: „Wir werden jetzt immer bei dir
bleiben und für dich sorgen, Timm. Du bist ja der reguläre Erbe des Ganzen, und morgen wirst du sechzehn und…“
„… und keineswegs volljährig!“ belehrte sie der Baron.
Frau Thaler wandte mit einem Ruck den Kopf. In ihre Augen kam
das falsche Feuer, das man „hektischen Glanz“ nennt und an das
Timm sich gut erinnerte. (Aber er erinnerte sich daran wie an das feuchte Glänzen von Kuhaugen, die man einmal gefürchtet hat und
die man beim Wiedererkennen ein bißchen dumm und völlig
ungefährlich findet. „Wie dumm, unter der Dummheit zu leiden“,
dachte Timm heute.)
Lefuet erklärte jetzt mit belustigt zuckendem Munde, warum
Timm mit seinem sechzehnten Jahr noch nicht volljährig sei: „In
diesem Lande, Frau Thaler, wird der Mann erst mit einundzwanzig
Jahren mündig, kommt also dann erst in den vollen Genuß einer
Erbschaft. Sie haben vermutlich erfahren, daß ich die
Staatsbürgerschaft eines Landes besitze, in dem der Mann mit
sechzehn Jahren volljährig wird; aber das hat nichts mit Ihrem
Stiefsohn Timm zu tun. Er untersteht nach wie vor den Gesetzen
dieses Landes. Erst wenn er einundzwanzig ist, kann er die Erbschaft regulär antreten.“
Die Stiefmutter hatte den Baron mit keinem Wort unterbrochen.
Nur ihre Lider hatten ein wenig geflattert,
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