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Timm Thaler

Timm Thaler

Titel: Timm Thaler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Krüss
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der Baron einen Finger auf die Lippen: „Bitte, kein Aufsehen! Wir sind
    inkognito hier. Mister Brown und Sohn, Kaufmann aus London.“
    Die Direktorenarme fielen herunter. Der Mann machte eine
    korrekte Verbeugung: „As you like it, Mister Brown! Your bagage is already here!“
    Timm fand das Ganze ungeheuer belustigend. Er hätte jetzt den
    Direktor umarmen mögen, so sehr hatte ein kleiner Zettel die ganze Welt für ihn mit einem Schlage verändert.
    Aber Timm umarmte niemanden, er lachte auch nicht. Wie sollte
    er auch? Er sagte ernst und höflich, wie es ihm in langen traurigen Jahren zur Gewohnheit geworden war: „Thank you very much!“

    Neunundzwanzigster Bogen

    Vergessene Gesichter

    Während der Weltreise hatte Timm sich an die ständige Beschattung durch Detektive gewöhnt. Die Leute hatten ihre Aufgabe unauffällig und zurückhaltend erfüllt. Einige Male hatte der Junge die beiden Herren aus Genua wiedererkannt. Beunruhigt hatten sie ihn nie
    mehr, da er auf der Reise den gehorsamen Begleiter Lefuets gespielt hatte.
    Jetzt aber, mit dem kostbaren Zettel in der Jackett-Tasche,
    witterte Tim hinter jeder Vorhangfalte einen Detektiv. Er wagte
    nicht, den Zettel herauszunehmen und zu lesen. Auch ließ Jonnys
    Maskerade und seine gespielte Zurückhaltung vermuten, daß Timms
    Freunde genau so beschattet würden wie er selber.
    Schließlich – der Baron hatte sich für eine Stunde niedergelegt –
    ging der Junge in das Bad, das zu seinem Appartement gehörte,
    riegelte hinter sich ab, setzte sich auf die Kante der blaugekachelten Wanne und zog hier den Zettel aus der Tasche.
    Das Papierchen war nicht größer, als vier Briefmarken sind. Eine
    Seite war mit einer winzigen Schrift bedeckt. Aber diese Schrift
    konnte der Junge mit bloßem Auge nicht lesen. Er brauchte eine
    Lupe.
    Wie aber kam Timm zu einer Lupe? Während er den Zettel
    wieder in die Tasche steckte, überlegte er: Wenn er von einem
    Hotelangestellten eine Lupe erbat, würden es die Detektive erfahren.
    Wenn er eine kaufte, würde der Detektiv im Laden fragen, was der
    Junge gekauft habe. Wie also unauffällig zu einer Lupe kommen?
    Timm hörte, wie jemand klopfte und anscheinend sein
    Appartement betrat. Er glaubte, es sei Lefuet, ließ vorsichtshalber das Spülwasser der Toilette rauschen, ließ den Riegel der Tür
    möglichst leise zurückschnappen und ging in den Salon zurück.
    In diesem Salon stand ein runder Tisch mit vier Sesseln. In dem
    Sessel, der Timm beim Eintreten genau gegenüber stand, hockte
    vornübergebeugt eine ältere, stark geschminkte Frau, die sich
    lächerlich bunt und jung gekleidet hatte. Die etwas strohigen Haare waren zu Löckchen gerollt. Im Sessel neben ihr saß ein blasser,
    langaufgeschossener Jüngling, der statt einer Krawatte eine grell-bunte, übermäßig lange Fliege trug. Timm war es plötzlich, als röche das Zimmer nach Pfeffer, Kümmel und Anis.
    Mit der Stiefmutter und Erwin hatten die beiden Besucher nur
    entfernte Ähnlichkeit. Aber sie waren es.
    Timm stand stumm in der Tür. Auf diese Gesichter war er nicht
    gefaßt gewesen. Er hatte nur einen Atemzug lang gebraucht, um sie wiederzuerkennen. Aber es brauchte einige Zeit, ehe er aus den
    veränderten Gesichtern die alten Züge hervortreten sah. Und da sah er zum erstenmal in seinem Leben, daß es dumme Gesichter waren.
    Er hörte seinen Vater sagen: „Verachte die Dummheit, wenn sie
    nicht gutmütig ist.“ Er sah jetzt, was er als kleiner Junge nur dumpf und unklar geahnt hatte. Er begriff, daß sein Vater die beiden da vor ihm durchschaut hatte. Er begriff auch, daß er als Kind sein Lachen bewahrt hatte, weil es den Vater gab.
    Timms Augen waren feucht geworden, nicht vor Rührung,
    sondern vor erstauntem Starren. Das Gesicht der Stiefmutter
    verschwamm, und das Gesicht der Spenderin seines Lachens schob
    sich davor: das Gesicht seiner Mutter. Schwarze Haare und
    glänzende schwarze Augensterne, eine haselnußbraune Hautfarbe
    und Kringel in den Mundwinkeln.
    Und auch das begriff Timm in diesem Augenblick: daß seine
    Zuneigung zu den Bildern des Palazzo Candido in Genua ein
    Wiedererkennen gewesen war. Aus jedem der italienischen Portraits hatte ihn das Gesicht seiner Mutter angeblickt. Jedes dieser Bilder war das Gesicht seiner Herkunft und – hoffentlich – auch das seiner Zukunft.
    Die Stiefmutter war bei Timms Erscheinen in die Höhe
    geschnellt, auf den Jungen zugestöckelt und ihm ganz einfach um
    den Hals gefallen. Timm – von

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