Timm Thaler
und eine Hand hatte
unruhig mit dem Taschentuch gespielt. Sie wandte sich jetzt wieder an ihren Stiefsohn und fragte mit mühsam unterdrückter Aufregung:
„Hast du denn nicht die Staatsbürgerschaft des Barons?“
Timm, der sie ohne Teilnahme gemustert hatte, hörte ihre Frage
nicht, weil er in Gedanken war. Er bemerkte nur, daß sie irgend
etwas gesagt hatte. Um nicht unhöflich zu sein, zeigte er nun auf die Sessel.
„Setzen wir uns doch, dann redet es sich besser.“
Schweigend verteilte man sich um den Tisch.
Timm schlug ein Bein über das andere und sagte: „Ich habe noch
nie darüber nachgedacht, wer jetzt eigentlich mein Vormund ist. Als der Baron…“ (er machte eine kurze Pause) „… starb, hieß es, der
neue Baron sei mein Vormund. Erst jetzt fällt mir ein, daß meine
Stiefmutter dazu ihre Einwilligung geben mußte. Ist das geschehen, oder…“
Frau Thaler wirkte plötzlich hilflos. Sie murmelte: „Weißt du,
Timm, es ging uns nicht gut, als du fort warst. Wir hatten viel Pech, und da…“
„… da hat Frau Thaler mir die Vormundschaft schriftlieh und
amtlich übertragen“, ergänzte Lefuet für Timm. „Gegen einen
ansehnlichen Betrag, den sie für den Kauf eines Variete-Theaters
verwendet hat. Und dieses Theater scheint pleite gegangen zu sein.“
„Aber das lag nicht an mir, sondern an den Zeitumständen“,
schluchzte Frau Thaler, und dann begann sie wieder ihr altes
atemloses Geplapper:
„Ichweißja,daßgerichtlichallesinordnungist,abereristdochmein Kind, undwirsitzendochjetztaufderstrasse,meinsohnundich,und…“
Diesmal unterbrach Timm sie. Er sagte: „Wenn du meine
Vormundschaft verkauft hast, kann man nichts mehr daran ändern.“
„Verkauft! Verkauft! Seidochnichtsohart,Timm! Wirwarendochin
Not!“
„Und wieviel Geld braucht ihr jetzt?“
„Werredetdenn von Geld? Wir bleibendochjetzt zusammen,
Timm!“
„Nein“, antwortete der Junge. „Wir bleiben nicht zusammen! Ich
hoffe, wir sehen uns heute zum letzten Mal. Aber wenn ich euch mit Geld helfen kann, will ich es gerne tun. Wieviel benötigt ihr?“
„Meine Zustimmung vorausgesetzt“, sagte der Baron. Aber Timm
tat so, als habe er es nicht gehört.
„Ach, Timm!“ (Schon wieder dieses falsche Schluchzen.) „Du
bist doch jetzt so unermeßlich reich, und wir als deine Verwandten können doch nicht als Hungerleider leben!“
Der Baron setzte zum Lachen an, schlug sich aber auf den Mund,
ehe das verräterische Kullern und Glucksen vernehmbar wurde. Er
hatte spotten wollen; doch rechtzeitig fiel ihm ein, daß er ein Lachen besaß, welches diese beiden Leute kannten. Er mußte dafür sorgen, daß sie ihm nie wieder über den Weg liefen; und folglich mußte er zahlen. Deshalb machte jetzt er einen Vorschlag:
„Auf Jamaica, Frau Thaler, besitze ich ein gutgehendes
Strandbad. Hauptsächlich für amerikanische Touristen. 60.000
Dollar Jahresumsatz. Sie wissen, Jamaica ist die Insel des ewigen Frühlings. Ihr Bungalow steht unter Palmen am Meer.“
Timm dachte verwundert: „Der Baron redet wie ein
Reiseprospekt. Das kann er also auch!“ Im übrigen wußte der Junge, der das im Entstehen abgebrochene Lachen deutlich genug bemerkt
hatte, warum Lefuet diese Leute so weit fortschickte. Er wunderte sich nicht einmal, als der Baron den beiden eine Dampferreise erster Klasse dazuschenkte.
Die Stiefmutter schluchzte schon wieder oder noch immer, als sie
sagte: „Sie sind zu gütig, Herr Baron.“
Erwin hatte heiße Augen bekommen bei dem Gedanken an
Jamaica. Er zuckte – ebenso wie seine Mutter – mit den Lidern.
„Kommen Sie, bitte, mit in mein Appartement, damit wir das
Geschäft gleich erledigen“, sagte der Baron jetzt. Er erhob sich und ging zur Tür, die er mit ironischer Höflichkeit offenhielt.
Frau Thaler stöckelte hinter ihm her, erinnerte sich aber
rechtzeitig noch einmal an Timm, drehte sich zu dem Jungen um und fragte: „Wirst du uns auch nicht vergessen, Timm?“
„Ich glaube, ich habe euch schon vergessen“, sagte Timm. Aber
nicht sehr laut. Dann gab er ihr die Hand und sagte ernst: „Viel
Glück auf Jamaica!“
„Danke, danke, mein Junge!“ Ihr Gesicht begann sich auf ein
Lächeln umzustellen. Aber ehe es da war, stand sie schon auf dem
Flur.
Erwin gab Timm ebenfalls die Hand und wollte seiner Mutter
folgen. Aber Timm hielt ihn zurück und flüsterte: „Besorge mir eine Lupe und leg sie unter die rotgestrichene Bank an der Alster – dem Hoteleingang
Weitere Kostenlose Bücher