Timm Thalers Puppen
geworfen und dann das Steuerruder scharf herumgerissen, weil unser Boot ins Schlingern geraten war. Nun stellte er den Motor ab, und während wir auf eine freie Stelle an der Ufermauer zuschaukelten, auf einen schmucklosen
Bootspfosten zu, sagte der Bootsfahrer in einem Italienisch, das ich verstand: »Meine Schwester hat eben einen Sohn bekommen. Es ist ihr erster. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mir das Bürschchen schnell mal angucke? Es ist nicht weit von hier, und ich bin gleich zurück.«
Ohne eine Antwort von uns abzuwarten, sprang er,
nachdem er das Boot am Pfosten rasch vertäut hatte, auf die Ufermauer, winkte uns flüchtig noch einmal zu, rannte davon und verschwand in einer Gasse.
»Der hat Familiensinn«, sagte Timm Thaler. »Was tun wir jetzt? Gehn wir spazieren? So schnell kommt unser
Bootsmann sicherlich nicht zurück.«
Ich fand die Luft zu drückend zum Spazierengehen. Auch Krescho hatte dazu keine Lust. So schlug ich vor, Timm möge uns im Boot, das ja bequeme Sitze hatte, seine Geschichte von dem Wegwerf glas erzählen. »Für eine Glasgeschichte«, sagte ich, »gibt es kaum einen besseren Ort als die Insel Murano.
Und auf dem Wasser ist es wenigstens ein bißchen kühl.«
Da erzählte Timm uns, während uns von der Ufermauer
manchmal Leute zuwinkten, die Geschichte:
Misposegeist
oder
Nobel geht die Welt zugrunde
In den Tagen des Wohlstands trank alle Welt Misposegeist.
Misposegeist war ein berühmter Schnaps, gewonnen aus dem Saft der Mispel und der Aprikose. Er wurde verkauft in einer gedrungenen Flasche aus grünlichem Muranoglas. Der Korken war mit rotem Siegellack versiegelt, in den die Lettern C.F.D. verschlungen eingedrückt waren. Die Flasche war eingewickelt in grünliches Seidenpapier und stand in einem bunt lackierten viereckigen Pappkarton, der mit Mispel- und Aprikosenblüten bedruckt war. In dem Karton lag am Boden ein Heftchen aus Büttenpapier, in dem in altmodischen Buchstaben die Geschichte des Misposegeistes aufgeschrieben war, die Geschichte des Schnapses mit der milden Reife der Subtropen.
Misposegeist wurde vom Hause Düncker hergestellt,
Inhaber C. F. Düncker senior. Es gab auch einen C. F.
Düncker junior. Der war zu jener Zeit, von der ich hier erzähle, ein vierzehnjähriger Junge.
Und mit Carl Friedrich Düncker junior, Cari genannt, fängt die Geschichte an, und zwar mit seinem vierzehnten
Geburtstag.
An diesem Tage rief sein Vater ihn frühmorgens zu sich in sein Arbeitszimmer, in dem auch Onkel Eduard, des Vaters Bruder, saß.
»Mein werter Sohn und Erbe«, sagte der Vater hier ein bißchen feierlich, »du sollst, da du jetzt vierzehn Jahre alt bist, erfahren und erleben, was alles nötig ist, um eine Flasche unseres Misposegeistes herzustellen. Ich schenke dir zu diesem Zwecke eine Reise, auf der dich Onkel Eduard
begleiten wird.«
Herr C. F. Düncker senior überreichte seinem Sohn ein Fahrscheinheft, und Onkel Eduard – »ein Sozialfall«, wie man in der Firma sagte, weil er für das Geschäftemachen kein Talent hatte –, auch Onkel Eduard erhielt aus seines Bruders Hand ein Fahrscheinheft. Dann sagte Caris Vater: »Mach die Augen auf, und gute Fahrt, mein Sohn!«
Noch am selben Tage gingen Onkel Eduard und Cari auf die Reise. Als sie das Haus verließen, das in einem feinen Viertel stand, stieg vor dem Nachbarhaus gerade der
Dienerchauffeur Albert aus dem Auto und winkte ihnen zu. Er hatte eingekauft. Unter dem rechten Arm trug er einen viereckigen länglichen Karton. Durch das dünne Seidenpapier, in das er eingewickelt war, konnte man buntlackierte Mispel-und Aprikosenblüten erkennen.
»Der Albert hat Misposegeist gekauft. Ein gutes Zeichen für den Anfang unserer Reise«, sagte Cari.
»Abwarten, mein Herr Neffe«, sagte Onkel Eduard. Dann fuhren sie zum Bahnhof.
Ein schneller Zug entführte sie ins Niederbayrische, wo sie auf einem altmodischen Bahnhof in einen Bummelzug
umsteigen mußten.
Von diesem nicht sehr schnellen Zuge aus sahen sie Reihen hoher alter Bäume vorüberziehen; und farnüberfingerte Felswände glitten an ihnen vorbei. Manchmal öffneten sich freundliche Talmulden mit Dörfern und Holzstapelplätzen oder mit flachen Flüßchen, die blank und blitzend über das Geröll sehr breiter Betten purzelten. Zuweilen winkten aus den Tälern Kinder herauf.
»Eine feine frische, feuchte Gegend«, sagte Cari.
»Und deshalb eine Holzgegend«, ergänzte Onkel Eduard.
»Wir werden hier das Holz besichtigen, das für
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