Timoken und der Trank der Unsterblichkeit
Wärme aus. Die Kinder setzten sich nah an das Feuer und aßen das letzte Dörrfleisch, das ihnen noch geblieben war. Jetzt hatten sie nur noch Hirsekekse und Bohnen und sie fragten sich, wie lange dieser Vorrat noch reichen würde.
Hinter dem Reisigstapel lag ein Sack voll Getreidekörnern. Timoken vermutete, dass sie für das Kamel bestimmt waren, und trug den Sack hinaus zu Gabar, der allein in der Kälte vor der Höhle hockte.
Gabar blökte zum Dank und begann laut zu schmatzen, während Timoken den Sattel löste und die schweren Taschen ablud.
„Morgen Früh werde ich für Regen sorgen“, sagte er zu Gabar. „Dann kannst du etwas trinken.“
„Wirklich?“, schnaubte Gabar ungläubig.
„Du wirst schon sehen“, erwiderte Timoken. „Gute Nacht, Gabar.“
Zobayda hatte eine Decke aus Kleidungsstücken auf dem Höhlenboden ausgebreitet. Die Kinder legten sich darauf, zogen das Netz über sich und in Windeseile waren sie eingeschlafen.
Eine Stunde später wachte Timoken wieder auf. Vom Feuer war nur noch ein Häufchen Glut übrig geblieben und das flackernde Licht warf lange Schatten an die Höhlenwände. Als Timoken die Schatten genauer betrachtete, erkannte er, dass es sich in Wirklichkeit um lange, fließende Linien handelte. Waren das Buchstaben oder Bilder?
Timoken setzte sich auf. Aus den Schatten drangen nun auch Stimmen. Er erhob sich und näherte sich der Wand. Als er die raue Oberfläche berührte, spürte er ein Pochen, als wäre sie lebendig.
„Wer seid ihr?“, flüsterte Timoken.
Tausend Stimmen redeten jetzt auf ihn ein. Es herrschte ein solches Gewirr, dass er kein Wort verstehen konnte. Er sah kurz zu Zobayda hinüber, weil er dachte, sie würde jeden Moment aufwachen. Doch sie schlief tief und fest, ohne das laute Gemurmel wahrzunehmen.
Nach und nach konnte Timoken die verschiedenen Stimmen auseinanderhalten. Er musste sich nur auf eine konzentrieren und die anderen ausblenden. Der erste Sprecher beschrieb eine schöne Stadt, in der er mit seiner Frau und seinen zehn Kindern lebte; der nächste sprach von einem Markt, auf dem Gold- und Silberschmuck, exotische Früchte und Stoffballen auf Tischen ausgebreitet und mit Baldachinen vor der Sonne geschützt waren; ein dritter berichtete von Wölfen in einem dunklen Wald; und wieder ein anderer erzählte von der Flucht vor einem riesigen Seeungeheuer, das sein Boot hatte verschlingen wollen.
Timoken begriff, dass die Stimmen den Reisenden gehörten, die einst in der Höhle Rast gemacht und Geschichten aus ihrem Leben an die Höhlenwand gemalt hatten. Und irgendwie erreichten diese Stimmen durch die Zeichen auf dem Felsen Timoken. Er war ganz aufgeregt bei dem Gedanken, dass auch er seine Geschichte an zukünftige Höhlenbesucher weitergeben konnte. Sofort holte er das perlenbesetzte Messer hervor, das ihm sein Vater geschenkt hatte, und begann, eifrig Bilder in die Felswand zu ritzen.
Seine Zeichen würden Jahrhunderte überdauern. Er hinterließ damit eine Nachricht an Menschen in der Zukunft, die er niemals kennenlernen würde.
Timoken hatte gerade mit seiner Geschichte begonnen, als er noch jemanden in der Höhle wahrnahm. Er wurde beobachtet. Und plötzlich schaute ihn jemand geradewegs aus der Höhlenwand heraus an. Es war ein dreizehn oder vierzehn Jahre alter Junge mit einer helleren Haut als Timoken und mit lebhaften braunen Augen. Sein Haar war dick und widerspenstig, sein Lächeln unwiderstehlich. Timoken lächelte zurück.
Der Junge trug ungewöhnliche Kleidung. Sein rotes Oberteil lag eng am Körper an und die schmutzige Hose war aus irgendeinem groben blauen Stoff genäht.
„Da bist du ja!“ Die Stimme war so klar und deutlich, dass Timoken unvermittelt einen Schritt zurücktrat. Er konnte den Jungen ohne Weiteres verstehen, obwohl er eine fremde Sprache sprach.
Nach kurzem Zögern fragte Timoken: „Wer bist du?“
Wie war das? Hatte der Junge „Chlie“ gesagt? Ein schwieriger Name.
Timoken runzelte die Stirn. „Und wo bist du?“
„Ich bin hier“, erwiderte der Junge aufgeregt. „Ich kann noch immer nicht glauben, dass dies gerade tatsächlich passiert.“
„Es ist wirklich erstaunlich“, stimmte ihm Timoken zu.
„Ich habe so oft versucht, dich zu treffen“, fuhr der Junge fort, „doch ich wurde immer von jemandem daran gehindert. Jetzt ist er endlich fort.“
„Wer war das?“
„Das müsstest du eigentlich wissen. Andererseits hast du ihn wahrscheinlich noch gar nicht getroffen. Wie du
Weitere Kostenlose Bücher