Timoken und der Trank der Unsterblichkeit
Kopf.
Doch Timoken achtete nicht auf sein Kamel, sondern lief weiter dem Geräusch des Wassers entgegen. Er fand einen Bach und folgte seinem Lauf. Der Bach wurde zu einem Fluss und Timoken hörte das entfernte Rauschen eines Wasserfalls. Er blieb stehen und rief nach seiner Schwester, doch seine Kehle war vor Angst wie zugeschnürt. Langsam ging er weiter, bis er zu einem flachen schwarzen Felsen kam. Aus irgendeinem Grund war er sich sicher, dass Zobayda hier gestanden hatte. Er konnte sie förmlich vor sich sehen.
Timoken trat an den Rand des Felsens. Seine Hände zitterten und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Was war hier passiert? Er kniete sich hin und berührte den Felsen, der ihm das Geschehen offenbarte. Zobayda hatte auf seiner feuchten schwarzen Oberfläche gestanden. Und dann war sie in den reißenden Fluss gesprungen. Wieso?
Timoken starrte auf die Wasserpflanzen, die sich unter der Wasseroberfläche wanden. Etwas glänzte zwischen ihnen auf einem schmalen Vorsprung, der unter dem Felsen hervorragte. Timoken tastete den Vorsprung ab und bekam einen kleinen Gegenstand zu fassen. Als er ihn aus dem Wasser zog, erkannte er Zobaydas Ring. Das Gesicht des Wald-Dschinns war von Reue gezeichnet.
„Ich konnte sie nicht aufhalten“, wisperte er.
Zornestränen traten Timoken in die Augen.
„Wen?“, wollte er wissen.
„Die Viridees“, antwortete der Ring.
Wieder dieser Name.
„Warum?“, brüllte Timoken. „Warum sie und nicht ich?“ Wütend schloss er die Faust um den Ring, um ihn zurück in den Fluss zu schleudern.
„Neeeiiin!“, kreischte der Ring.
Timoken biss die Zähne zusammen. „Wieso sollte ich dich behalten? Du hast meine Schwester nicht beschützt“, stieß er böse hervor. Er öffnete die Faust, um den Ring in die Fluten fallen zu lassen. Doch der Ring blieb an seinem Finger haften und übertönte mit glockenheller Stimme das Tosen des Wassers. „Ich habe versucht, sie zu retten, Timoken. Aber sie waren einfach zu stark. Doch ich habe nicht zugelassen, dass sie mich auch noch mit sich nehmen. Jetzt gehöre ich dir.“
„Aber du bist nutzlos für mich!“, schrie Timoken. Er schüttelte die Hand, um sich von dem Ring zu befreien.
„Nein, du wirst es sehen! Du wirst es sehen!“, jammerte die dünne Stimme.
Hinter Timoken schwoll Lärm an. Es klang, als würde jedes Lebewesen des Waldes die Worte des Ringes wiederholen: „Du wirst es sehen! Du wirst es sehen! Du wirst es sehen!“
„Behalte mich! Behalte mich!“, rief nun der Ring.
Und Tausende schnatternde, kreischende und heulende Stimmen forderten: „Behalte den Ring! Behalte den Ring!“
Timoken ließ die Hand sinken. Er drehte sich um und spähte verwundert in den Wald. „Hast du das gehört?“, fragte er das Kamel.
„Behalte den Ring“, riet ihm nun auch Gabar.
„Das werde ich wohl“, murmelte Timoken.
Er steckte den Ring an den Mittelfinger seiner linken Hand. Das kleine Gesicht nahm einen erschöpften und erleichterten Ausdruck an. Langsam schloss es die Augen.
Niedergeschlagen stieg Timoken von dem schwarzen Felsen herab und lehnte den Kopf gegen Gabars zotteligen Hals. „Was sollen wir nur ohne Zobayda tun?“, schluchzte er voller Verzweiflung.
Gabar kannte sich mit menschlichen Gefühlen nicht besonders gut aus. Dennoch hallten Timokens gramerfüllte Schluchzer tief in seinem Inneren wider und zu seiner Überraschung rann sogar eine Träne aus seinen großen Augen. Trotz allem lag ihm aber auch noch etwas anderes am Herzen.
„Wir sollten den Wald verlassen“, schnaubte er.
„Noch nicht“, schluchzte Timoken. „Noch nicht.“
Im verborgenen Königreich zogen sich die Trauernden in den Wald zurück und blieben dort, bis ihre Trauer vorüber war, was zwischen einem und zehn Jahren dauern konnte.
Timoken wischte sich über die Augen und wankte zwischen den Bäumen davon. Gabar folgte ihm gehorsam.
So liefen sie in die Abenddämmerung hinein, ohne dass Timoken in der Lage gewesen wäre, die Tränen zurückzuhalten, die über seine Wangen strömten. Er konnte weder stehen bleiben noch essen, noch trinken. Die Trauer lastete auf seinen Schultern wie ein schwerer Stein und er konnte ihr nicht entfliehen.
Ziellos liefen sie durch die Nacht. Die Fledermausschwärme, von denen Timoken einst so begeistert gewesen war, erschienen ihm mit einem Mal so unbedeutend wie eine Staubwolke. Die Rufe der Eulen, denen er mit so viel Vergnügen gelauscht hatte, klangen nur noch wie fernes
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