Timoken und der Trank der Unsterblichkeit
hervor, während Gabar ihnen mit einem missbilligenden Ausdruck auf seinem stolzen Kamelgesicht zuschaute.
Eines Tages, als Timoken und Charlie in der Ruine einer römischen Villa beieinandersaßen, sagte Timoken: „Ich habe dir erzählt, wie mein Leben in den vergangenen einhundert Jahren verlaufen ist, aber vielleicht kennst du ja meine Zukunft, Charlie. Kannst du mir sagen, wann ich sterben werde?“
Charlie runzelte die Stirn. „Nein“, erwiderte er, „aber mein Freund Gabriel besitzt den Mantel, den du trägst.“ Er berührte das Netz, das um Timokens Schultern lag. „Er ist aus rotem Samt und nicht wie dieser Mondumhang aus Spinnenseide.“
„Rot, sagst du?“ Timoken lächelte. „Was für ein Rot?“
„Scharlachrot.“
Als Charlie gegangen war, tätschelte Timoken den Hals des Kamels und sagte: „Schau nicht so finster, Gabar. Ich kann nicht anders. Ich muss so viel mit Charlie reden. Mir fehlt die Gesellschaft anderer Kinder, anderer Lebewesen, die so sind wie ich.“
„Mir auch!“, brummte das Kamel.
Timoken wusste, dass Gabar die Gesellschaft anderer Kamele vermisste, und er fühlte sich schuldig. Doch was konnte er dagegen tun? Wenn er einen Gefährten für Gabar fand, wie sollte er ihn zum Fliegen bringen? Er und Gabar waren durch die lange Zeit, die gemeinsamen Erlebnisse und wahrscheinlich auch aus Zuneigung eng miteinander verbunden.
Langsam hatten sie eine kältere Klimazone erreicht. Der Winter kam und zum ersten Mal in seinem Leben sah Timoken Schnee vom Himmel fallen. Er wusste zwar, was das war, denn er hatte schon Schnee auf den Bergspitzen liegen sehen, doch auf dem Rücken eines Kamels zu sitzen, während um ihn herum dicke Flocken sanft herabschwebten, hatte fast etwas Magisches.
Sie zogen weiter nordwärts und jeder Tag schien kälter als der vorherige zu sein. Timoken hielt zwischendurch an, um Seide gegen eine dicke Wolldecke für Gabars Rücken sowie einen Schaffellumhang und eine Pelzmütze für sich selbst einzutauschen. Bald fanden sie sich in einer felsigen, kargen Umgebung wieder, in der ein stetiger Nordwind blies. Den Winter verbrachten sie in einer Höhle, aus der sie sich nur gelegentlich hinauswagten, um Muscheln und Perlen gegen Nahrungsmittel zu tauschen.
In dieser Zeit statteten ihnen die Leoparden einen Besuch ab. Als sie sich davon überzeugt hatten, dass Timoken wohlauf war, verschwanden sie wieder in der frostigen, grauen Landschaft, jedoch nicht ohne das Versprechen, immer darauf zu achten, ob Timoken nach ihnen rief.
Als der Frühling kam, zogen der Junge und das Kamel weiter. Manchmal verweilten sie ein ganzes Jahr am Rand eines Dorfes, manchmal zogen sie lieber rasch weiter. Sie flogen über ein Meer, von dem Gabar glaubte, dass es niemals enden würde. Sie stiegen so hoch über den Bergen auf, dass das Fell des Kamels zu steifen Haarbüscheln gefror und Timoken das Gefühl hatte, seine kalte Nase würde abfallen. Doch der Ring drängte sie immer weiter.
„Es ist noch nicht sicher“, wisperte er jedes Mal.
Es vergingen noch einmal fünfzig Jahre, bis Timoken plötzlich nicht mehr weiterreisen wollte. „Wir sind so weit in den kalten Norden vorgedrungen“, beklagte er sich bei dem Ring. „Wenn wir weiterziehen, werden wir erfrieren oder vom Rand der Welt stürzen. Bis hierher können uns die Viridees unmöglich folgen.“
Die Augen in dem winzigen Gesicht blinzelten. „Es hat sich mittlerweile etwas Neues ergeben“, sagte der Dschinn. Seine Stimme hatte einen entschuldigenden Ton. „Die Viridees haben eine Möglichkeit gefunden, wie sie sehr wohl weiter in den Norden vordringen können.“
„Das verstehe ich nicht ganz“, erwiderte Timoken.
„Ich glaub e … einer von ihnen ist ein Mensch.“
„Wenn diese Person menschlich ist, kann er oder sie kein Viridee sein.“
„Doch, das ist e r – aber er sieht aus wie ein Mensch.“
„Und wo hält sich dieser menschliche Viridee auf? Werde ich ihn treffen?“
„Das kann ich dir nicht sagen“, antwortete der Wald-Dschinn mit Bedauern. „Verzeihst du mir?“
„Natürlich verzeihe ich dir. Aber was soll ich denn jetzt machen?“ Timoken ballte enttäuscht die Fäuste. „Werde ich mich niemals sicher fühlen können, wenn ich unter Menschen bin? Werde ich niemals einen Freund haben?“ Er drehte grob an dem Ring, als hätte der Wald-Dschinn Schuld an allem. „Wie soll ich diese Person erkennen, wenn sie vor mir steht? Wird es irgendein Zeichen geben? Wird sich ihre wahre Natur
Weitere Kostenlose Bücher