Timpetill - Die Stadt ohne Eltern: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
geschwindelt. Das nennt man eine Notlüge. Notlügen sind erlaubt.«
»Darf man auch notlügen, wenn man die Schule geschwänzt hat?«, fragte der dicke Paul.
»Nein«, sagte ich. »Schuleschwänzen ist keine Ehre.«
Wir standen im Kreise herum und wussten nicht recht, was wir nun anfangen sollten.
Mit einem Mal rief Robert Punkt: »Da hinten steht etwas auf dem Bahnsteig!«
Wir drehten uns erschrocken um. Am Ende des Bahnsteiges standen eine Menge große blecherne Milchkannen. Wir liefen eilig hin.
»Das ist die Milch für morgen früh«, sagte Otto. »Der Zug bringt sie immer mit.«
Ich zählte rasch die Kannen. Es waren zwanzig Stück. Thomas hob einen Deckel ab. Die Kanne war voll Milch.
»Milch!«, rief der dicke Paul entzückt. »Darf ich einen Schluck trinken?«
»Du bist wohl verrückt!«, fuhr Thomas ihn an.
»Was fangen wir damit an?«, überlegte ich laut.
Thomas kratzte sich hinterm Ohr. »Wir müssten sie fortschaffen. Hier kann die Milch heute Nacht nicht stehenbleiben. Dann ist sie morgen sauer.«
»Saure Milch schmeckt auch gut«, seufzte der dicke Paul und starrte träumerisch auf die Kannen.
8
Wenn das Pferd Husten hat
Wir wollten die Milch in die Stadt bringen. In Frau Weißmüllers Milchladen ist ein Kühlraum. Dort wollten wir die Kannen aufbewahren. Wir wussten aber nicht, wie wir sie bis zum Geißmarkt schleppen sollten. Wir berieten lange hin und her. Plötzlich schlug Karl Benz vor, die Droschke von Kutscher Pfauser anzuspannen. Seine Idee war sehr gut. Wir liefen in die Bahnhofgasse. Hier wohnt der Kutscher in einem kleinen Haus, hinter dem der Stall liegt. Das Tor war geschlossen. Thomas klopfte an. Wir hofften, dass vielleicht die Kinder schon zurück wären. Zuerst blieb alles still. Dann pochte Thomas stärker. Eine ängstliche Jungenstimme hinter der Tür fragte: »Wer ist da?«
Das war Max Pfauser, der älteste Sohn des Kutschers. Wir freuten uns, dass er zu Hause war, und Thomas rief: »Ich!«
»Wer ist ›ich‹?«, kam es zaghaft zurück.
»Ich, Thomas Wank! Öffne sofort!«, erwiderte Thomas streng. Wir hörten ein aufgeregtes Flüstern, dann fragte Max:
»Was willst du?«
»Dummkopf, mach auf!«, schrie Thomas ärgerlich. »Wir tun euch nichts. Wir brauchen die Droschke, um die Milch wegzuschaffen!«
»Wir haben keine Milch!«, rief Max. Aber er machte die Tür jetzt einen Spalt auf.
Thomas steckte rasch den Fuß dazwischen. Wir drängten nach in den Flur. Max Pfauser wich erschrocken zurück und stellte sich schützend vor seine Brüder Walter und Gustav. Wir mussten lachen, weil sie uns alle drei so angsterfüllt anstarrten.
Sie taten mir leid. »Wir fressen euch nicht«, sagte ich. »Wir müssen nur rasch den Wagen und das Pferd haben. Sonst wird die Milch sauer.«
»Kannst du das Pferd einspannen, Max?«, fragte Thomas.
Max atmete auf. Er war froh, dass wir ihn nicht verhauen wollten. »Hans ist krank«, antwortete er bereitwillig.
»Wer ist Hans?«, wollte Marianne wissen.
»Hans heißt unser Pferd!«, rief Walter Pfauser.
»Was fehlt ihm denn?«, fragte Marianne interessiert. Max zuckte die Achseln: »Er hustet.«
»Zeig uns den Stall!«, forderte Thomas ihn auf.
Max führte uns über den Hof zum Stallgebäude. Wir gingen hinein. Links stand die Droschke, ein offener Einspänner, in der andern Ecke das Pferd vor einer heugefüllten Krippe. Hans drehte sich neugierig nach uns um. Er blickte uns traurig an. Wir musterten ihn besorgt. Der alte Gaul ließ müde den Kopf hängen und fraß nichts. Ab und zu hustete er ein bisschen. Marianne trat zu ihm heran und klopfte ihm freundlich auf den Hals. »Es wird schon wieder besser werden«, sagte sie aufmunternd.
»Vielleicht hat er Halsschmerzen«, meinte Karl Benz.
»Er fühlt sich heiß an«, sagte Thomas, der seine Hand auf den Rücken des Pferdes gelegt hatte.
»Es ist nicht so schlimm«, beruhigte uns Max. »Er ist oft krank. Vater lässt ihn ruhig im Stall stehen, dann wird er wieder gesund.«
»Man müsste ihm eine Decke um den Hals wickeln«, schlug Röschen Traub mitfühlend vor.
»Das kann auf keinen Fall schaden«, sagte ich.
Wir ließen uns von Max eine Decke geben und legten sie Hans um den Hals. Damit sie aber nicht runterfiel, mussten Marianne und Trudi Rabe zwei Sicherheitsnadeln opfern, mit denen wir die Decke feststeckten.
»So!«, sagte Thomas. »Das tut ihm sicher gut.«
»Aber was machen wir jetzt mit der Milch?«, fragte der dicke Paul.
»Vielleicht kann Hans es bis zum
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