Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Timpetill - Die Stadt ohne Eltern: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Timpetill - Die Stadt ohne Eltern: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Timpetill - Die Stadt ohne Eltern: Roman (Heyne fliegt) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Winterfeld
Vom Netzwerk:
herunter und half schieben, aber der Wagen rührte sich nicht vom Fleck. Er drohte sogar zurückzurollen. Wir ächzten und stöhnten und schrien uns gegenseitig an. Einer trat dem andern vor Aufregung auf die Füße. Zum Glück kamen gerade Ludwig Keller, der Sohn des Kürschnermeisters, und Ernst Werner, der Sohn des Stationsvorstehers, um die Ecke getrollt. Sie blieben bei unserem Anblick wie die Salzsäulen stehen und starrten uns mit offenen Mäulern dumm an.
    »Steht nicht wie die Ölgötzen da, sondern helft uns!«, schrie Thomas zornig.
    Da wurden sie lebendig und sprangen uns bei. Sie stemmten sich hinten gegen den Wagen. Die Droschke rollte nicht rückwärts, aber vorwärts kriegten wir sie auch nicht. Plötzlich eilten Fritz Schlüter, der sehr kräftig ist, und seine Schwester Erna aus ihrem Haus. Sie hatten vom Fenster aus zugesehen, wie wir uns abrackerten, und wollten uns zu Hilfe kommen. Sie griffen von beiden Seiten in die Radspeichen. Jetzt ging es endlich, ganz langsam und ruckweise, aufwärts. Nach vielen »Haurucks!« und kräftigen Schimpfworten hatten wir es glücklich geschafft. Wir waren oben. Aber wir waren so abgekämpft, dass wir erst einmal verschnaufen mussten. Wir setzten uns auf die Trittbretter der Droschke und den Rand des Bürgersteiges und ruhten uns aus. Es war schrecklich heiß und drückend. Die riesige Wolkenwand am Himmel kam bedrohlich näher.
    »Es gibt ein Gewitter«, stellte ich fest.
    »Wie grauslich!«, schrie Röschen Traub. »Ich kann Gewitter nicht ausstehen!«
    Thomas steckte die Nase in die Luft und prüfte kritisch den Himmel. »Das kommt nicht so rasch!«, sagte er. Dann wandte er sich an Fritz Schlüter und blickte ihn herausfordernd an. »Na, was habt ihr sonst noch alles ausgefressen?«
    Fritz Schlüter blickte verlegen zu Boden. Er zuckte die Achseln.
    »Oh, nichts!«, antwortete er gedehnt. »Was wollt ihr denn mit der Milch?«, fügte er rasch hinzu.
    »Wollt ihr die allein austrinken?«, fragte Erna neugierig.
    »Wir sind doch keine Piraten!«, sagte ich höhnisch.
    »Wir wollen die Milch bei Frau Weißmüller unterstellen, damit sie nicht sauer wird«, sagte Röschen Traub.
    Erna rief: »Seid ihr aber blöd! Das können doch die Eltern machen, wenn sie nach Hause kommen.«
    »Schrei nicht so, dumme Gans!«, sagte Marianne. »Selber eine Gans!«, erwiderte Erna spitz.
    Marianne lachte. »Retourkutsche!«
    Erna wurde wütend. »Du spielst dich ja mächtig auf«, höhnte sie.
    »Nicht sehr geistreich«, erwiderte Marianne und rümpfte die Nase.
    Wir lachten. Thomas beendete den Streit: »Zankt euch nicht! Wir haben Wichtigeres zu tun.« Dann schaute er Erna drohend an. »Die Eltern denken sicher nicht an die Milch. Sie haben ja auch nicht daran gedacht, dass ihr die Läden plündern werdet.«
    Erna wagte nicht, irgend etwas zu erwidern. Auch die andern schwiegen schuldbewusst.
    »Wirst du uns verpetzen?«, fragte Ernst Werner nach einer Weile.
    Thomas grinste. »Nein! Aber ich werde euch allen das Fell versohlen!«
    »Hoho!«, murrte Fritz Schlüter. Aber es klang ziemlich zaghaft.
    Thomas drehte sich rasch nach ihm um. »Hast du was gesagt?«, fragte er barsch.
    »I-i-ich? N-n-nein!«, stotterte Fritz Schlüter.
    »Dein Glück!«, fuhr Thomas fort. »Sonst hättest du dir deine Knochen nummerieren können!«
    Ich zeigte auf den finsteren Himmel. »Wir müssen weitermachen, Thomas!«, drängte ich.
    In der Ferne grollte der erste Donner. »Los! Abfahrt!«, schrie Thomas.
    Wir nahmen rasch unsere Plätze ein. Marianne kletterte auf den Bock. Die Kollersheimer Straße geht von hier an abwärts bis zur Langengasse, dann kommt noch eine kurze Steigung bis zum Geißmarkt. Fritz Schlüter und seine Schwester Erna waren zuerst unschlüssig stehengeblieben. Aber dann liefen sie plötzlich hinter uns her und halfen schieben. Ich sah, wie Thomas verschmitzt lächelte. Er schien sich darüber zu freuen, dass sie mitmachten.
    Unsere Milchfuhre ging jetzt im Rekordtempo weiter. Bald bogen wir auf den Geißmarkt ein. Auf dem buckligen Pflaster mussten wir aber vorsichtig fahren, weil sonst die Milchkannen herausgefallen wären. Der Geißmarkt war ganz leer. Kein einziges Kind war mehr zu sehen. Es war inzwischen so dunkel geworden, dass wir nur undeutlich die schwachen Umrisse der Häuser erkennen konnten. Auf dem Platz lagen noch überall die Spielsachen herum. Die Kinder hatten einfach alles stehen und liegen lassen. Die Fahrräder lagen auf dem Pflaster. Roller und

Weitere Kostenlose Bücher