Timpetill - Die Stadt ohne Eltern: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
konnten. Nach kurzer Zeit fingen sie an zu dampfen. Es sah aus wie in Mutters Waschküche. Ab und zu schoben wir dicke Holzkloben in das Feuer. Das machte uns einen Mordsspass.
»Genau wie bei den Indianern!«, schrie Karl Benz ausgelassen.
Wir fühlten, wie wir allmählich trocken wurden. Wohlig rekelten wir uns auf unseren Plätzen und starrten in die Flammen. Plötzlich stieß der dicke Paul einen Seufzer aus: »Ich habe entsetzlichen Hunger!«
Im Nu war es lebendig. Alle schrien, dass sie auch entsetzlichen Hunger hätten.
»Die Eltern lassen uns glatt verhungern!«, stellte Robert Punkt schmerzlich fest.
»Vielleicht finden wir hier etwas zu essen!«, ließ sich Heinz Himmel schüchtern vernehmen.
Wir sprangen begeistert auf. »Natürlich! Hier muss es was zu essen geben! Das ist doch ein Restaurant!«, riefen wir alle durcheinander.
Thomas strich sich die Haare aus der Stirn, kniff die Augen zusammen und sagte: »Seid doch endlich einmal still! Ich bin ja auch dafür, dass wir etwas in den Magen kriegen.«
»Hurra!«, brüllten wir erfreut.
»Ruhe!«, schrie Thomas. »Wir werden uns nehmen, was wir unbedingt brauchen. Aber wir schreiben alles genau auf und setzen unsere Namen darunter. Den Zettel lassen wir hier.«
»Das nennt man requirieren«, sagte ich belehrend.
»Wie man das Ding nennt, ist mir egal!«, fuhr Thomas fort. »Unsere Eltern müssen es halt morgen bezahlen. Wir können schließlich nicht unsere Schuhsohlen anknabbern.«
Wir waren einmütig seiner Meinung und liefen auf bloßen Füßen in die Küche. Wir leuchteten mit den Taschenlampen die Wände ab, bis wir den Eingang zur Speisekammer fanden. Dann quetschten wir uns alle in die schmale Kammer und entdeckten dort die herrlichsten Sachen. Da gab es riesige Würste, ganze Reihen von Schinken, zahlreiche Regale mit Konserven, Eiern, Butter, Käse, Schmalz, Marmelade und Honig; alle möglichen Brote und armlange Salzstangen. Und noch viele andere verlockende Speisen.
Der dicke Paul war dafür, alles sofort aufzuessen. Wir lachten ihn aus. Thomas wollte, dass wir nur Brot und Schmalz nahmen. Aber das war uns wieder zu wenig.
»Kochen wir eine heiße Suppe!«, schlug Marianne vor. »Das ist auch gut gegen Erkältung.«
Diese Idee fanden wir fabelhaft. Doch es gab sofort große Meinungsverschiedenheiten, was für eine Suppe wir kochen sollten.
»Nudelsüppchen!«, piepste Röschen Traub. »Milchreissuppe!«, rief Ernst Werner.
»Pfui Teufel!«, schrien wir alle entsetzt.
»Ich bin für Kartoffelsuppe mit Speck und Würsten!«, sprudelte der dicke Paul aufgeregt hervor. »Wir können auch noch Eier hineintun. Und Makkaroni. Und Schinken. Und Geselchtes. Und hinterher können wir Pudding essen mit Schlagsahne. Und dann …«
»Halt die Luft an!«, unterbrach Thomas ihn zornig. »Das kommt alles gar nicht in Frage. Wir nehmen Kartoffeln und Zwiebeln, setzen sie mit Suppenwürfeln an, tun etwas Margarine hinein, und dann gibt’s noch eine Schnitte Brot für jeden. Mehr braucht der Mensch nicht, um satt zu werden. Schluss!«, fügte er kurz und bündig hinzu.
»Schade«, seufzte der dicke Paul.
Wir packten Kartoffeln, Zwiebeln, Suppenwürfel, ein Stück Margarine und einen Laib Brot in einen Korb. Beim Hineinlegen zählten wir alles genau nach. Robert Punkt riss ein Blatt aus seinem Notizbuch, und ich holte meinen Füllfederhalter hervor.
Ich besitze einen sehr schönen Füllfederhalter. Einen Triplex. Das ist ein amerikanisches Modell. Das allerneueste Patent. Zehn Jahre Garantie. Mein Vater hat ihn mir zu Weihnachten geschenkt. Wir haben in unserem Papiergeschäft sehr viele Füllfederhalter. Meiner ist der teuerste. Er hat eine echte achtzehnkarätige Goldfeder. Ich besaß schon einmal einen Füllfederhalter. Aber der ist mir abhanden gekommen. In der Pappschachtel lag nämlich ein Prospekt, und darauf stand: Man kann den Füllfederhalter von einem fünfzig Meter hohen Turm hinunterwerfen, ohne dass er kaputt geht. In Timpetill gibt es keinen so hohen Turm. Der Kirchturm ist nur achtundzwanzig Meter hoch. Auch darf man von ihm nichts hinunterwerfen. Ich schmiss den Füllfederhalter aus dem Fenster meiner Mansardenstube. Als ich runterkam, war er verschwunden. Ich habe Willi Hak im Verdacht, dass er ihn mir gestohlen hat. Seitdem mache ich keine Experimente mehr mit Füllfederhaltern.
Wir schrieben damals alles auf, was wir aus der Speisekammer im »Goldenen Posthorn« genommen hatten. Jeder schmierte seinen Namen hin, und wir
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