Tintorettos Engel
Zuane sein Einhorn. Er wolle Derwisch werden und sei auf der Suche nach dem Stein unter seinem Kopf, der so weich wie ein Federkissen sei, nach dem Sternenhimmel über ihm, der ihn beschütze wie ein Hausdach, und nach der Musik der von der Strömung glatt geschliffenen Flusskieselsteine, die wie die Offenbarung Gottes klinge. Dann kamen keine Briefe mehr. Hin und wieder besann er sich und überlieferte einem Bekannten ein paar Neuigkeiten. Er wolle uns wissen lassen, dass er sich guter Gesundheit erfreue. Nach meiner hat er nie gefragt. Die Bekannten erzählten, er mache einen zufriedenen Eindruck.«Wobei?», fragte meine Frau beunruhigt. Niemand konnte es ihr erklären. Er sei auf Reisen, hieß es.
Der Letzte, der ihn gesehen hat, war mein Schüler Cesare Dalle Ninfe in Dalmatien, der zu jener Zeit an den Fresken einer Kathedrale auf einer Insel arbeitete, deren Name ich vergessen habe, und daher häufig nach Trogir kam. Barfuß und dürr wie ein Gespenst sei Giovanni mit langem und ungepflegtem Bart dahergekommen. Auf Cesare Dalle Ninfe machte er eher den Eindruck eines Bettlers als eines Derwischs. Wiedererkannt hatte ihn mein Schüler nicht. Giovanni war es, der ihn ansprach.«Bist du nicht Cesare?»«Ja, ich bin ich», hatte Cesare ihm schlagfertig wie immer geantwortet,«aber du bist nicht du, mein Freund.»Sie setzten sich zum Plaudern auf die Kaimauer. Am Hafen wurde gerade ein Schiff aus Venedig entladen. Giovanni muss den Kapitän
gut gekannt haben. Briefe hatte er aber nicht für ihn. Über mich wollte er von meinem Schüler nichts wissen, er fragte nur nach seiner Mutter und nach Marietta. Cesare musste ihm von mir von sich aus erzählen. Da habe er nur stumm zugehört. Dann sei er wieder humpelnd in Richtung Stadt verschwunden. Dicht an der Mauer entlang, als hätte er im Schatten Schutz gesucht, bevor ihn mein Schüler in der Menge aus den Augen verlor. Bei seiner Rückkehr werde ich weder ein Bankett veranstalten noch ein gemästetes Kalb schlachten - nicht einmal im Tod werde ich ihn wiedersehen.
Plötzlich herrschte in der Totenkapelle absolute Stille. Es wurde eine kleine Zeremonie abgehalten, in der der Prior eine improvisierte Rede über den Tod - der lediglich ein Übergang, eine letzte Reise und eine Erlösung sei - und die Auferstehung hielt, bei der wir alle am Tag des Jüngsten Gerichts unsere Leiber wiederfänden und im Licht der Ewigkeit lebten. Ich dachte an den schönen Körper meines Sohnes und an die Worte, die ich ihn lehrte, und dass auch die Seele, die sich für einen solchen Körper entscheidet, schön gewesen sein muss. Leider habe ich sie nicht kennengelernt. Der Prior schwenkte das Weihrauchfass und segnete den Maler. Amen. Das Letzte, was ich noch zu tun hatte, war hiermit erledigt.
In der Sakristei holte der Camerlengo das Ausgabenbuch hervor. Ich unterzeichnete den Erhalt des Geldes, und er händigte es mir aus. Dann steckte ich es in den Beutel. Es waren siebzig Dukaten. Ist das viel? Wenig? Ich weiß es nicht. Manchmal ist selbst ein einziger Dukaten viel. Meine Frau wird damit mein Begräbnis und den Leichenschmaus für unsere Freunde bezahlen. Mehr fiel mir dazu nicht ein.
Der Wind hatte gedreht und die schwüle Luft weggeweht. Aus dem Norden brauste die Bora heran. Die Sonne war bereits untergegangen. Über dem Festland türmten sich bleischwere Wolken,
und Venedig verschwand in feinem, bläulichem Staub.«Beeil dich», stöhnte Marco,«es wird gleich regnen.»
Mitten auf unserer Überfahrt von der Insel San Giorgio wurden wir vom Gewitter heimgesucht. Wir waren jedoch nicht zum ersten Mal in der Lagune Wind und Wetter ausgesetzt. Meine Frau sagt immer, ich zöge den Sturm an wie andere Leid und Kummer. Als meine Söhne klein waren, beobachtete ich gemeinsam mit ihnen die stürmische See - wie die Hühner auf der Stange saßen wir oben in den Glockentürmen. Der Himmel leuchtete in den ungewöhnlichsten Farben auf - grün, blau, violett. Meine Kinder fürchteten sich nicht vor den Blitzen, sondern davor, dass sie die Farben nicht auf der Leinwand wiedergeben konnten und vergaßen. An diesem Nachmittag aber lauschte ich besorgt dem Donnern, während uns der Wind auf die offene See und gefährlich nah ans Kielwasser der großen Galeeren trieb. Da stellte ich Dominico erneut die Frage.
Ich habe das Recht, Herr, zu erfahren, wie mein Sohn gestorben ist. Ein junger Mann von sechsundzwanzig Jahren stirbt nicht einfach plötzlich. Zuane war nicht krank. Vielleicht
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