Tintorettos Engel
sah er etwas heruntergekommen aus, vielleicht aß er nicht viel, um in den Zustand der Ekstase zu gelangen - wer weiß, zeitlebens hat er sich für den schwierigeren Weg entschieden. Aber sein Körper war immer gesund und stark, es war vielmehr sein Charakter, der einen Riss bekommen hatte. Schwierigkeiten drückten ihn nieder, er konnte nicht den kleinsten Misserfolg aushalten, vor dem erstbesten Hindernis, das ihm stets unüberwindlich vorkam, verließ ihn der Mut. Gegner und Widerstände erschuf er sich selbst, säumte seine Tage mit Fallen, damit er sagen konnte, höhere Gewalt hätte ihn am Erledigen seiner Aufgaben gehindert. Aber wenn es kein Fieber, keine Schwellung, keine im Hirn geplatzte Ader gewesen ist - was dann? Tritte und Schläge in einer dunklen Gasse nach einem nichtigen Streit? Eine Rauferei in einem Gasthaus wegen einer nicht bezahlten Schuld? Der Dolchstoß eines Besserwissers, den
er beleidigt hatte? Die Hiebe der Schergen, die ihn verhaften und gewaltsam in seine Heimat Venedig zurückschicken wollten? Die Verzweiflung, im Gefängnis eingesperrt zu sein? Die bedrückende Einsamkeit auf einer Reise ohne Wiederkehr? Die Schlinge um den Hals, just als alles aussichtslos erschien? Ist er umgebracht worden? Hat er sich umgebracht, Herr?
Dominico behauptete, er wisse nichts. Marco warf eine Münze ins Wasser: Zehnmal sprang sie wieder auf, ehe sie schließlich unterging.«Zuane ist gegangen, Papa», sagte er,«er will nicht zurück.»Wir fuhren gerade genau in der Mitte des Kanals, als eine Narbe aus Feuer den Himmel durchstieß. Um uns herum wirkte alles klar und phantastisch zugleich, wie eine verzerrte Traumlandschaft. Und doch war es mir vertraut - als hätte ich diesen Moment schon einmal erlebt. Die Gondel, der Kinnbart meines treuen Dominico, Marcos ungekämmtes krauses Haar, der Riemen, die aufgedunsenen, rissigen Hände auf meinem Schoß, die wie alte Baumrinde aussahen, und auch das Wasser in der Lagune. Der Strom schleifte ein Gestrüpp aus Fäden mit ins Meer hinaus - eine Art abdriftende Insel, noch nicht Erde, aber auch nicht mehr Wasser, eine weiche, im Entstehen begriffene, jedoch wurzellose Kruste. Genau so fühlte ich mich in jenem Augenblick - wie ein unförmiger Haufen aus Fäden auf der Suche nach festem Halt, ins offene Meer hinausgetrieben, weit weg vom Ufer, an dem ich landen möchte, das mich aber vielleicht nie wieder an Land lassen wird. Und genau im selben Augenblick, als der Blitz aufleuchtete, sah ich sie.
Mit dem Alter habe ich nach und nach das scharfe Gehör verloren, die Gelenkigkeit, das leichte Versinken in den Schlaf, die sichere Hand beim Führen des Pinsels, die Empfindsamkeit der Haut für Liebkosungen und für die Wärme der Sonnenstrahlen. Die Eigenschaft, der ich jedoch wirklich nachtrauerte, ist Flinkheit. Das hat mich hervorgehoben, denn in meiner Stadt ist Schnelligkeit ein Skandal und purer Irrsinn. Niemand ist schnell: weder
das Gesetz noch der Tod, weder die Schiffe noch die Menschen oder die Fische. Die Wesen, die sich in Venedig am besten vermehren, leben in der Starre, klammern sich an Poller, wimmeln im Schlamm herum oder verstecken sich unter dem Sand: Muscheln, Moos, Krabben, Würmer, Seespinnen. Venedig ist langsam und macht langsam. Venedig scheut die Bewegung und Veränderung. Ich dagegen habe nie stillgestanden, zusammen mit mir bewegten sich auch meine Bilder von der Stelle. Ich habe derart schnell gedacht, gemalt und gelebt, dass ich das Einzige, das mich einholen musste, nämlich das Leben, abgehängt habe. Selbst meine Augen sind trüb, ein Nebel hat sich wie eine Gaze aus Rauch auf meine Pupillen gelegt und lässt die Farben verblassen. Ich bin dazu verdammt, Überblendungen, scheinbar verflochtenes und mehrfach gebrochenes Licht zu ertragen. Manchmal zeichnen sich flüchtige, geheimnisvolle Bilder in das hinein, was ich gerade anschaue. Ich habe Venedig zu meiner Welt gemacht, die tatsächlich wie Venedig geworden ist - eine zittrige Luftspiegelung, eine ungewisse Vision. Noch aber sehe ich mit ausreichender Klarheit. Und auf einmal sah ich sie. Eine unsägliche Angst breitete sich in mir aus.
Ich versuchte erst gar nicht, sie zu beschreiben. Ich hatte keine Angst vor dem Tod - letzten Endes hast du mich bereits getötet, Herr -, sondern vor etwas, das in noch viel schrecklicheren Tiefen liegt, verborgen in den nur dir bekannten Abgründen meiner Person. Etwas, das ich war und noch immer bin. Dominico wurde nicht müde, mir
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