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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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Gehilfen in der Werkstatt mit ähnlichen Aufgaben beschäftigt, und sie taten alles andere als herumjammern, vielmehr wetteiferten sie regelrecht miteinander, wer mich mit größter Ähnlichkeit nachahmen - mich wiederholen - konnte. Ich sagte es ihnen zwar nicht offen heraus, wer mir am nächsten gekommen war, doch mein Verhalten, die Vertrautheit, mit der ich den Besten behandelte, die Aufmerksamkeiten, die ich ihm erwies, auch die Verwendung ihrer Arbeiten, wenn ich sie entweder mit ein paar Pinselstrichen vollendete und zum Verkauf anbot oder in einer Ecke verschimmeln ließ, sprachen für sich. Und so lange, bis der Favorit - vielmehr die Favoritin - nicht ein- und aufgeholt wurde, ertrug sie den schmerzvollen Neid der anderen.
    Monatelang verließen Kopien meiner meist geschätzten Arbeiten die Werkstatt: mal etwas kleiner oder größer als das Original, mal genau gleich, aber spiegelverkehrt, mal wurden Figuren, die uns auf dem Ursprungsbild direkt anschauen, von hinten oder im Profil dargestellt - häufig aber auch ohne eine einzige Abwandlung. Genau darum hatte ich Marco gebeten. Er musste sich die Orgelflügel von Madonna dell’Orto einprägen und sie halb
so klein abmalen. Außerdem konnte er auf meine Zeichnungen hoffen: Ein Großteil meiner Figuren befand sich zusätzlich in meinem Skizzenblock. Er musste sich also lediglich Proportionen, Farben, Pinselführung und den Lichteinfall genau ansehen. Es war eine Arbeit wie jede andere - wenngleich es kein Gemälde wie jedes andere war.
    Ihm gelang es nicht. Seine Arbeit war eine Beleidigung für die Malerei.«Das ist das Allerletzte», sagte ich zu ihm. Ich rede nicht gern um den heißen Brei herum: Ich finde es besser, wenn die Worte Biss haben - denn auch das Leben ist bissig. Zu mir bin ich genauso streng. Als Marietta einmal eine von mir eilig angefertigte Portraitskizze - meines Erachtens wie mit dem kleinen linken Zeh dahingekritzelt - als äußerst wirklichkeitsgetreu lobte, entgegnete ich ihr entrüstet, sie solle kein dummes Zeug reden: bekacktes Papier sei das, mehr nicht. Als ich nun Marco rügte, schauten die anderen weg und widmeten sich ihren Arbeiten, als hätten sie nichts gehört. Kritik und Tadel verteilte ich im Übrigen gerecht. Schließlich kamen sie nicht zu mir, um gelobt zu werden, sondern um einen Beruf zu erlernen. Marco forderte ich auf, mit der Kopie noch einmal von vorn zu beginnen.
    Er fing noch einmal an und kam zu keinem besseren Ergebnis. Die Figuren waren unproportional, die Farben blass, die Gestik schroff, die Perspektive verfehlt. Tollpatschig kletterte die kleine Maria die Stufen zum Tempel hinauf: Sie sah aus wie ein buckliges Püppchen. Ich gab ihm die Leinwand zurück.«Einen Monat habe ich daran gearbeitet», protestierte Marco ungläubig.«Wärst du mal lieber raufen gegangen», erwiderte ich.«Warum sagst du mir nicht, was ich tun soll?», ereiferte er sich.«Zeichnen, zeichnen und noch mal zeichnen», sagte ich ruhig.«Meinst du, du wärst etwas Besonderes, nur weil du der Sohn von Tintoretto bist? Ohne Studium und ohne Schweiß wirst du nie ein Meister.»«Du hast gut reden, dir fällt ja gar nichts schwer!», schimpfte er.
    «Meinst du wirklich?», lachte ich ihn aus.«Arbeite ich vielleicht
nicht achtzehn Stunden am Tag, und das mit fast sechzig Jahren, während die anderen in irgendeiner Villa auf dem Land die Früchte ihrer Arbeit genießen und den Pinsel beiseitegelegt haben? Siehst du nicht, dass ich mich noch immer mit dem Studium einer Statue beschäftige, die ich seit fünfzig Jahren kenne, weil ich nicht müde werde herauszubekommen, wie sich das Zucken der Rückenmuskeln verhält? Weil wir es immer noch ein wenig besser können und nie gut genug sind? Sollte ich je behaupten, etwas Bedeutsames gemalt zu haben, sollte ich jemals glauben, angekommen zu sein, so kann ich jederzeit vom letzten Galeerensträfling überholt werden. Schäm dich, du Dummkopf!»
    «Aber bei dir geht alles ganz natürlich , Papa», murrte er - mit hochrotem Gesicht und aufsteigenden Tränen.«Wenn sie dich um etwas bitten, dann setzt du dich hin, und zwei Stunden später hast du schon eine gute Idee gehabt. Außerdem ist es nicht wahr, dass du immer vorzeichnest. Oft malst du direkt auf die Leinwand, ich beobachte dich nämlich, musst du wissen, wie mit einem Stift führst du den Pinsel hin und her, und nicht die kleinste Spur einer Linie ist zu erkennen, höchstens mal eine, die man nicht einmal erahnen kann, aber immer weißt

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