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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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du, worauf du hinauswillst und was du als Nächstes tun musst.»
    Wochenlang hockte er in Madonna dell’Orto am Fuß der Orgel und zeichnete das stolze und wunderbare kleine Mädchen, das die fünfzehn Stufen zum Tempel hinaufsteigt. Anschließend stellte er in einer Ecke der Werkstatt die dunkle Grundlage für die Leinwand her und wartete gespannt darauf, bis sie trocken war, mischte Farben an, vermengte sie mit Leinsamenöl, zeichnete auf die noch feuchte, braune Grundierung die Umrisse der Figuren und überarbeitete sie anschließend mit feinen Pinseln. Er arbeitete mit Sorgfalt und Hingabe. Das kann ich nicht leugnen. Als er mir jedoch zum dritten Mal das Bild vorlegte, war es wieder eine Enttäuschung. Die kleine Maria völlig ohne Anmut - eine statische Figur mitten auf der Treppe. Kaltes Licht, die Szene ohne
jegliche Poesie. Beim letzten Mal erläuterte ich ihm seine Fehler nicht mehr. Ich bat ihn, die Leinwand auf der Staffelei abzustellen. Dominico befahl ich, sie mit einer Farbschicht zu überziehen und als Grundlage für eine andere Arbeit zu verwenden. Dominico gehorchte.
     
    Den Nachbarn und Vorstehern des Viertels, die vorbeischauten und wissen wollten, was los sei, erzählte ich, dass ein Vorhang im Atelier Feuer gefangen habe, dass ein Funke von der Lampe übergesprungen sei, mit der ich meine Lichtexperimente machte. So war es jedoch nicht: Nachts ließ ich nie die Laternen in der Werkstatt brennen. Todmüde war ich eingeschlafen. In jenen Tagen war ich fix und fertig. Nie habe ich so viel gearbeitet wie im Jahr nach Tizians Tod, nachdem die Pest zu Ende gegangen war und das Feuer den Dogenpalast verwüstet hatte.
    Ich hatte soeben den letzten Pinselstrich an den vier Gemälden mit Motiven aus der Mythologie für das Atrium des Kanzleisaals im Dogenpalast ausgeführt, dem prunkvollen Vestibül über der Goldtreppe, wo fremde Gesandte auf ihren Empfang im Kollegiumssaal warten. Es handelte sich um einen prestigeträchtigen Auftrag. Und dieses Mal hatte ich ihn mir nicht stehlen, kaufen oder erbetteln müssen. Die vier Leinwände waren der Preis für meine Treue gegenüber der Republik. Das Wichtigste ist, einen Tag länger als dein Feind zu leben. Als Beweis meiner Dankbarkeit hatte ich die angefangene Arbeit für die Rochusbruderschaft aufgeschoben. Ich war verpflichtet gewesen, einer Expertenkommission von Laienbrüdern, die eigens dafür gewählt wurden, Bewilligungen auszusprechen und mein Vorhaben in die Wege zu leiten, einen Plan vorzulegen. Das Projekt war vielschichtig, mein Ehrgeiz groß und die Zeit knapp. Die Schule konnte warten: Du konntest warten. Im Dogenpalast trat ich gegen Tizian und seinen Veroneser Nachfolger an: Ich wollte beweisen, dass ich auf keinen Fall schlechter war. Monatelang tat ich nichts anderes, als den Akt
der Ariadne zu überarbeiten, den Ring, den Bacchus ihr reicht, mit Gold zu bestäuben und dem Körper der Venus einen noch zarteren Anstrich zu geben, die, im Himmel schwebend, einer anderen Frau die Krone aufs Haupt setzt. Das Ergebnis löste Begeisterung aus. Als jedoch die Venus vollkommen und die vier Gemälde abgegeben waren, als mir Nicolò da Ponte, der neu gewählte Doge, mitteilte, ich hätte seine erfreulichsten Erwartungen übertroffen und endlich auch für die Republik etwas von Wert geschaffen, geriet ich, anstatt die Historienbilder für die Rochusbruderschaft in Angriff zu nehmen, auf Abwege.
    Ein anderes Bild, das mir bedeutend weniger Ruhm einbringen würde, hatte mein Herz erfasst. Meine Kräfte gut einzuteilen gehörte noch nie zu meinen Stärken. So konnte ich mich monatelang persönlich einem Gemälde für die Bruderschaft der Böttcher widmen und Antonio, Pauwel, Dominico oder einen anderen Gehilfen mit Arbeiten betrauen, die mir ein Prinz in Auftrag gegeben hatte und die Geld und Ruhm verhießen. Aber so bin ich nun mal. Eine Leinwand ist wie ein Mensch. Mal springt der Funke über, mal nicht. Malerei ist Wahn, Besessenheit, Zauber - sagen wir einfach Liebe.
    Die Leinwand war für eine Privatkapelle der Kirche San Trovaso im Viertel Dorsoduro bestimmt. Mein Auftraggeber hieß Antonio Milledonne. Inzwischen arbeitete er nicht mehr als namenloser Sekretär eines Botschafters wie noch in jungen Jahren, als wir uns kennenlernten, sondern war ein wichtiger Staatsbeamter geworden. Als Sekretär unserer Regierung kümmerte er sich um Venedigs geheimste politische Angelegenheiten. Ich nahm an, ihm gefalle ein traditioneller Altarflügel - eine

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