Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
Vom Netzwerk:
mitten in den Raum gekippt war. Zu Tode erschrocken machte ich einen Satz zurück: Es sah aus wie eine Leiche. Marietta kniete sich hin, berührte das Wesen mit der Hand und bedeckte es wieder.«Was ist das?», rief ich. Als teilte sie mir den Tod einer lieben Person mit, erwiderte sie traurig:«Unser Engel.»
    Er war geschmolzen. Mit Wucht musste er von der Decke heruntergekracht sein. Das Wachs war auf dem Boden zu weißen, unförmigen Gebilden zerronnen. Das lebensgroße Modell, mit einem Seil am Deckenbalken befestigt, wo es wie ein Heilsbote, den ich in mehr als dreißig Jahren auf vielfältige Art verwendet hatte, über mir baumelte - dieses Modell gab es nun nicht mehr. Stattdessen lag dort ein aus der Form geratenes, verstümmeltes Monster. Die von der Hitze abgetrennten Flügel waren entzweigebrochen. Marietta hob erst den einen, dann den anderen auf und versuchte, sie erneut an den Engelrücken zu kleben - vergeblich. Ich kam ihr nicht zu Hilfe, denn in diesem Moment sah ich, dass der obere Teil der Versuchung heruntergerissen war. Eine Statue hatte beim Umstürzen die Leinwand eingerissen und den grauen, wolkenverhangenen Himmel durchtrennt. Meine Dämonin in ihren dunklen Hüllen und mit der auf der entblößten Brust ruhenden Hand jedoch war heil. Und hinreißend schön.
    «Wie furchtbar», sagte ich zu Marietta.«Marco wollte mich umbringen. Er wusste, dass ich hier drinnen war.»«Nein, das wusste
er nicht», erwiderte Marietta unbeirrt,«er ist spät heimgekehrt, er konnte nicht wissen, dass du heute Nacht hier unten geblieben bist. Er wollte dir nichts antun.»«Dafür aber meiner Dämonin - das ist dasselbe.»«Ist es nicht, Papa», entgegnete Marietta.
    Ich musste husten. Der Rauch staute sich zwischen den Wänden, wo er sich nicht verziehen konnte, und ich bekam keine Luft mehr.«Du musst mehr Geduld mit Marco haben», redete Marietta auf mich ein.«Warum nimmst du ihn in Schutz?», fragte ich sie.«Er hätte auch dich verbrannt, wenn er den Mut besessen hätte.»Betrübt schaute ich auf unseren bäuchlings und regungslos auf der Erde liegenden Engel.
    Ich wusste, dass das, was ich Marco in Wirklichkeit vorwarf, nicht dieser Brand war. Auch seine Kämpfe mit den herrenlosen Katzen, seine perversen aristokratischen Freunde, die Faustschläge, Glücksspiele, sein ständiger Rausch, seine Raufereien - all das kümmerte mich im Grunde genommen gar nicht. Ebenso wenig seine Eifersucht oder sein Hass auf mich - und meinen Funken. Vielmehr war es seine totale, unabänderliche Mittelmäßigkeit. Allein deswegen fühlte ich mich damals und noch heute zutiefst gekränkt. Ein Leben lang habe ich gekämpft, damit mein Name aus der großen Masse herausragt und respektvoll behandelt wird. Alles andere habe ich dafür geopfert. Marco aber wird immer sechzehn bleiben. Durch harte Arbeit habe ich mich selbst geschaffen. Marco ist nichts und wird nie etwas sein, er ist null und nichtig - niemand.
    «Von uns Kindern», meinte Marietta,«muss er dir am meisten am Herzen liegen. Sich beim Malen so viel Mühe zu geben, obwohl man keine Spur von Talent besitzt, ist wie Blut aus einer Mauer heraussaugen zu wollen oder Samen im Meer zu verstreuen. Das hat etwas Edles, darin liegt eine große Hingabe, findest du nicht?»«Marco ist ein Irrtum», erwiderte ich.«Für ihn wäre es besser gewesen, er wäre als Kind gestorben. Dann würde es mir heute um seine Zukunft, die er nicht hat, leidtun.»«Willst du damit
sagen, dass du, wenn ich nichts wäre - ein Niemand -, dass du mich dann nicht mehr gernhättest?», fragte sie vorwurfsvoll und wedelte mir mit dem Lappen, der ihre Schulter bedeckte, Luft zu.«Meine Liebste, du bist doch mein Meisterwerk», antwortete ich. Da forderte mich Marietta auf, ihr zuliebe Marco zu verzeihen. Sie würde ihn immer in Schutz nehmen, und wenn ich sie nötigte zu lügen, um ihm zu helfen, dann würde sie eben lügen. So vergab ich ihm also. Der Gedanke, dass ich Marietta nichts ausschlagen konnte, gefällt mir. Wenngleich selbst das nicht ganz der Wahrheit entsprach.
    Wir legten uns schlafen, als wäre nichts geschehen. Ich tat so, als glaubte ich an die Geschichte von dem übergesprungenen Funken. Ich ließ die Tür zum Atelier reparieren, kaufte einen neuen Arazzo und bestellte für das gesamte Haus neue Ledertapeten. Den in Mitleidenschaft gezogenen, viereckigen Bildausschnitt malte ich noch einmal neu - der schwarze Umhang des vor dem grauen Himmel schwebenden Christus wurde dieses Mal

Weitere Kostenlose Bücher