Tintorettos Engel
dunkler. Dann klebte ich ihn an das andere Teilstück: Die Naht sieht man jedoch nicht. Nachdem ich das Bild zwei Tage später Milledonne übergeben hatte, schaute ich es mir nie wieder an. Am Morgen darauf schleppte ich mich nach San Polo zu Marco Steiner aus Augsburg, unterzeichnete den Heiratsvertrag und brachte anschließend die Dokumente in die Pfarrei, um für Marietta das Aufgebot zu bestellen. Ich schwor mir hoch und heilig, nie wieder ein solches Bild zu malen. Kein Dämon, keine derart erregende Frau sollte jemals wieder meinem Geist und meiner Hand entspringen.
Unseren Engel habe ich dagegen nicht wieder repariert. Ohne Arme und Flügel band ich ihn erneut an der Taille um den Dachbalken. Dort hängt er noch immer. Über den Vorfall verloren wir kein Sterbenswörtchen mehr. Marco zog mit seiner Truppe los, spielte an diversen Höfen, erheiterte die Zuschauer und erntete Applaus - er kehrte jedoch immer wieder zurück. Tatsächlich verlassen hat er mein Haus nie. Selbst als Marietta es verließ. Seit
sechzehn Jahren erinnert mich der verstümmelte Engel an das, was ich meinem Sohn zuliebe ertrage, und an das Versprechen, das ich ihr in jener Nacht gab.
Als ich mich weigerte, Marcos Schulden zu bezahlen, fragte mich der alte Salomon, ob ich die jüdische Anekdote vom Zugvogel kenne. Sie geht in etwa so:
Ein Vogel lebt mit seinen drei Vogeljungen an der Küste. Als die unwirtliche Jahreszeit naht, sieht sich der Vogel gezwungen, das Meer zu überqueren, bevor ihn Sturm und Gewitter daran hindern und seine Familie verloren ist. Daher steckt er sich das erste Vöglein in den Schnabel, hebt ab und beginnt mit dem Überflug. Auf halber Strecke mitten über dem Meer angekommen, sagt er zu seinem Sohn:«Wie viel Mühe ich mit dir gehabt habe! Und was mir noch alles bevorsteht. Jetzt setze ich auch noch mein Leben für dich aufs Spiel. Wirst du dasgleiche für mich tun und mir helfen, wenn ich alt und schwach bin?»Darauf antwortet das Vogeljunge prompt:«Geliebter Vater, wenn ich groß bin, werde ich alles tun, was dir beliebt.»Da lässt der Vater den Sohn ins Meer fallen und sagt:«Etwas anderes hat ein Lügner wie du nicht verdient.»
Der Vater fliegt zurück, nimmt das zweite Küken in den Schnabel, hebt ab und macht sich erneut an den Überflug. Als sie sich mitten über dem Meer befinden, stellt er ihm diegleiche Frage, woraufhin ihm auch der zweite Sohn verspricht, dass er für seinen allerliebsten Vater, wenn er alt sei, alles Erdenkliche tun werde, denn er sei schließlich ein treuer und ergebener Sohn. Da lässt der Vater auch ihn ins Wasser fallen und sagt:«Auch du bist ein Lügner.»
Schließlich setzt er mit dem dritten Vögelchen zum Überflug an. Auf die besagte Frage antwortet der dritte Sohn:«Du hattest wahrhaftig große Mühe und Not mit mir, Vater. Seit meiner Geburt bin ich dir eine Plage. Es ist meine Schuldigkeit, das wiedergutzumachen.
Versprechen kann ich es jedoch nicht. Lediglich Folgendes kann ich dir versichern: Wenn ich eines Tages eigene Kinder haben werde, werde ich für sie das tun, was du für mich getan hast.»
Da erwidert der Vater, dass er das schön gesagt habe, schlägt kräftig seine Flügel und bringt ihn heil und unversehrt ans andere Ufer.
Ich gab dem alten Juden zu verstehen, dass die Moral dieser Geschichte grausam sei, da man uns gelehrt habe, auch die andere Wange hinzuhalten und das Schlechte mit dem Guten zu vergelten, aber auch, dass unser Vater im Himmel Gutes mit Gutem vergilt - dass das Dasein eines Christen geradezu auf diesem Prinzip beruhe. Wenn uns aber unser Herrgott und Vater die verdiente Erlösung deswegen verweigert, weil wir ihn verehrt beziehungsweise uns nichts mehr gewünscht haben, als ihn zu verehren, warum sollten wir dann noch an ihn glauben? Salomon entgegnete, dass dies keine Geschichte über die Erlösung, die Bestrafung der Ungerechten oder die Gerechtigkeit sei - sondern über die Vaterschaft.
Ich beglich die Schuld meines Sohnes bis auf den letzten Dukaten. In dem Schmuckkästchen waren noch Mariettas Perlenkette und eine Handvoll Kupfermünzen. Cohen riss die Seite mit dem Namen Marco Robusti aus seinem Rechnungsbuch und händigte sie mir aus. Er sagte, ich könne jederzeit meinen Gehilfen ins Ghetto schicken, um den Gegenstand abzuholen, den mein Sohn ihnen als Pfand dagelassen habe. Ich erwiderte, das komme nicht infrage. Dann würde es mir eben Menachem bei Gelegenheit vorbeibringen. Ich aber wollte es ihm zum Zeichen
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