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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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untertan. Du, der nie einen Herrn über sich gehabt hat, bist selbst zu einem geworden, bist genauso wie die, die dich in Ketten legen wollten. Du, der zur Empörung aller Händler und Geldaristokraten Venedigs nicht für Geld, sondern zum eigenen Vergnügen gearbeitet und ihre Habgier verhöhnt hat, du stellst heute deinen Namen in den Dienst des Profits. Du, der rein und glitzernd wie ein Diamant war, hast dich vom Ruhm korrumpieren lassen. Du, der allein der Wahrheit dienen wollte, versteckst sie heute hinter dem Namen Gottes. Ich aber habe deine Lektionen nicht vergessen. Deswegen rührt mich dein Leiden nicht an. Schon viel zu lang hast du gelebt - dein Hass ist im Übrigen ein Glücksbringer und deine Liebe Gift. Denn welches Ende deine Lieblinge nehmen, das ist ja bekannt.
    Ein geprügelter Hund begeht einen Fehler nicht zweimal. Auch die Maus geht nur einmal in dieselbe Falle. Aber du hast wirklich gar nichts gelernt, erst war dir Marietta nicht genug, dann Zuane. Auch Perina und Lucrezia genügten dir nicht. Und nun werden dir die Mädchen und auch ich nicht genug sein. Du verfügst über uns, als wärst du unser Hirte. Du meinst, uns wie die Figuren auf deinen Bildern führen zu können, du schiebst uns hin und her, stößt uns um, bedienst dich unser, stellst uns ins Licht oder in den Schatten. Wir sind aber nicht deine Herde, und unser Leben gehört nicht dir. Dein allerhöchster Auftrag war eine Lüge. Um die Welt zu retten, hast du uns alle fallen gelassen. Selbst deinen einzigen Stern hast du zerstört, hast die kostbarste Perle, die du je besessen hast, geopfert - doch wofür?, für wen? -, aber was viel schlimmer ist, dir ist es nicht einmal aufgefallen.
    Ich werde dich überleben, Vater, ich werde euch alle überleben; denn ich werde es nicht wie Marietta machen und mich entweder vernichten oder bedauern lassen. Auch wie Zuane werde ich es nicht machen - dessen einziges Reiseziel, das er kannte, der Tod
war. Du wirst mich nicht verjagen. Sondern ich werde aus diesem Gefängnis ausbrechen, und es wird dir nicht gelingen, mich wieder in einen Käfig zu sperren. Du wirst mich nie wiedersehen.«
    Er stopfte zwei Hemden und drei Schulterkragen aus weißer Spitze in Giovannis Lederkoffer und legte den gelben Rechnungszettel der Cohenbank auf die Kommode. Die letzten Worte, die er für mich übrig hatte, lauteten:«Schick Schila das Pfand bei Salomon abholen. Auf dem Bild ist noch immer Mariettas Blut zu sehen. Könntest ja wenigstens versuchen, die Spuren zu beseitigen. »
    Mein einzigartiger Stern pfeifend - unser Lied - machte er sich auf und davon. Ich lief ihm nicht wie seinem Bruder bis auf den Platz hinterher. Auch diese Zeiten sind vorbei. Knochentrocken wie eine Korkeiche bin ich geworden - ausgetrocknet die warmen Säfte meiner Liebe und Zuneigung. Die Quelle ist versiegt, die Grube erschöpft. Vom Fenster aus rief ich ihm nach, dass es mir eine Freude sein werde, von den Beamten des Sanitätswesens zu erfahren, dass seine Leiche aufgeschlitzt in einem Kasino gefunden worden sei, damit ich endlich in Frieden sterben könne. Dann sähen wir uns ja in der Hölle wieder, rief Marco zurück.
     
    Somit habe ich sie am Ende alle verloren, Herr. Ich war dermaßen aufgewühlt, dass der Anblick der verödeten Werkstatt - die Pinsel, die in den Flaschen steckten, die auf den Paletten geronnene Farbe, die reglosen Abgüsse, die leeren Mörser, all unsere lieblos zurückgelassenen Gegenstände - nicht auszuhalten war. Mir kam es vor, als wäre ich aus der Zukunft zurückgekehrt, um nach fünfzig Jahren nachzuschauen, was aus uns geworden ist. Aber so hatte ich es mir nicht vorgestellt. Verdient habe ich das nicht. Wie ein betrunkenes Gespenst wankte ich durch mein wunderschönes, leeres Haus, doch die Stille in den Räumen, die geschlossenen Türen zu den schmucklosen Zimmern, die stummen Portraits meiner verstorbenen Kinder, die mit muffigen Kleidern vollgestopften
Schränke waren unerträglich. So zahlreich waren wir gewesen, und nun blieb nur ich allein mit meiner Frau zurück - und mit meinem treuen Dominico. Das hätte nicht passieren dürfen. Wie hatte ich sie bloß alle ziehen lassen können? Einen nach dem anderen … Leicht wie trockenes Laub. Und schutzlos.«Die Mädchen! Wo sind die Mädchen?», schrie ich. Und fiel in Ohnmacht.

25. Mai 1594
    Neunter Fiebertag
    Mein letztes Abendmahl hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit den von mir gemalten. Um die Nacht fernzuhalten und den Tod zu

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