Tintorettos Engel
verscheuchen, ließ ich sämtliche Kandelaber, Öllampen und Fackeln auf den Fenstersimsen anzünden. Tausende von Abendessen habe ich in meinem Leben ausgerichtet. Die geselligen Runden entschädigten mich für die Einsamkeit, die mich beim Malen befiel, und die Gegenwart meiner Freunde vermittelte mir den Eindruck, ich könnte meine Entrücktheit - mein Leben im Anderswo, in meinen Erfindungen und Träumen - durch ein Lied, ein Lachen und gutes Essen überwinden. Dieses Abendessen jedoch war nicht wie die anderen. Ich servierte den Wein aus unseren Weinbergen, Hühner und Schinken von unserem Land, Steinbutt und Flunder, Hummer, Drachenkopf und Muscheln aus unserem Meer und als süßen Abschluss Apfelsinen und Quittenbrot. Nicht einen Bissen bekam ich hinunter. Aber auch ich wollte meine Familie und meine Jünger um einen Tisch versammeln. Ich ahnte, dass es das letzte Mal sein würde - denn wo ich hinging, würde mir keiner folgen können. Ich wollte von allen Abschied nehmen und wissen, wer von ihnen mich wirklich liebt und mir treu bleiben wird - und wer mich betrügen wird oder womöglich schon betrogen hat. Ich sprach die Einladung unter dem Vorwand unserer bevorstehenden Abreise nach Carpenedo aus, die Faustina und ich auf Anraten des Arztes für den nächsten Tag geplant hatten; wir würden den ganzen Sommer im Landhaus verbringen.
Vielleicht trieb mich auch das Verlangen um, meiner Frau in guter Erinnerung zu bleiben. Das Gezeter unserer Auseinandersetzung
vor dem Laden des Wurstmachers hallte noch immer leise nach: Jedes Mal, wenn ich fiebrig und vom Opium niedergeschlagen im Bett lag und sich meine geliebte Gemahlin über mich beugte, selbst wenn sie nur mein Kissen ausschüttelte und die Laken umschlug, konnte ich ihren Augen ablesen, wie leid es ihr tat, mich beleidigt zu haben. Kein Schatten aber darf zwischen uns verbleiben. Vierunddreißig Jahre lang haben wir Seite an Seite gelebt: Unstimmigkeiten, Zank und Streit und Eifersuchtsszenen - ich wegen ihr und sie wegen mir - hat es immer wieder gegeben. Das alles hat uns jedoch nicht nur nicht getrennt, sondern uns vielmehr einander nähergebracht. Weder wäre ich ohne sie noch sie ohne mich zurechtgekommen. Sie wird tun, was sie für richtig hält. Faustina weiß, was ihr und unseren Kindern guttut. Ich, Herr, habe das dagegen wahrscheinlich nie richtig verstanden.
Die Fenster der Loggia im großen Saal des ersten Stocks standen offen und gaben die Sicht frei auf den mit Myriaden von Sternen übersäten Himmel. Frische, nach Basilikum und Jasmin duftende Luft strömte herein. Um meinen Sohn Dominico hatten sich meine Assistenten, Schüler und Mitarbeiter gesellt - Palma und Albert der Holländer, beide inzwischen selbst anerkannte Meister, und auch Marchio Colonna und Cesare Dalle Ninfe, die sich noch keinen Namen gemacht haben und wahrscheinlich auch nie machen werden. Außerdem waren der griechische Maler Antonio, der von allen Aliense genannt wurde, mit seiner Frau Madonna Giulia da sowie der aus Flandern angereiste Kupferstecher Egidius Sadeler und der Juwelier. Und meine Mädchen. Erst als wir zu Tisch gingen, fiel uns auf, dass wir dreizehn waren. Einer zu viel.
Seit Weihnachten habe ich meine Mädchen nicht mehr gesehen. Laura ist kaum eine Handbreit gewachsen, Ottavia dagegen kräftig. Als Dominico sie mit schriftlicher Genehmigung des Patriarchen, die er der Äbtissin vorzeigte, in Sankt Anna abholte, bekamen sie einen Schreck. Auch die in der allgemeinen Ausbildung
befindlichen Mädchen unterliegen der Klausur und dürfen nur in Ausnahmefällen das Kloster verlassen: zum Beispiel bei einem Trauerfall in der Familie. Als Dominico ihnen mitteilte, dass ihr alter Vater sehr krank sei und sie zu sehen wünsche, weil er fürchte, dass seine Stunde gekommen sei, gerieten sie trotzdem nicht in Aufregung; sie nahmen an, ich wolle sie mit nach Carpenedo nehmen.«Muss ich so lange bei dir auf dem Land bleiben, bis du stirbst?», fragte mich Laura mit der Grausamkeit einer Zwölfjährigen, kaum dass sie im Zimmer stand.
Die Mädchen hassen den Sommer auf dem Land, den Faustina und ich dagegen lieben. In der Einsamkeit auf dem Hof langweilen sie sich noch stärker als zwischen ihren vier Wänden in Sankt Anna, können sie doch an der Landschaft der Weinberge und Kornfelder, dem gezackten Profil der Berge oder dem im Dunstschleier bebenden Horizont nichts Bezauberndes entdecken. Sie wollen tanzen, sich vergnügen und verloben. In ihrem Alter ist das
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