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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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Wahrheit: Ich habe Marco Augusta wie meinen eigenen Sohn behandelt. Mit allen Kräften half ich ihm, sich eine Position zu schaffen. Ich trug dafür Sorge, dass er wie Dominico, Marco und Giovanni Ordensbruder einer Laienbruderschaft wurde - und während meine leiblichen Söhne es mir mit Undank vergolten, hat sich mein Adoptivsohn Marco Augusta auf
vielfältige Weise erkenntlich gezeigt, bis heute. Ich weiß nicht, was ich noch für ihn hätte tun können.
    Noch immer trägt Marco Augusta Trauer. Er ist blass, hochgewachsen, vornehm und hager und sieht aus wie ein Abbild größter Melancholie. Als er mit schwarzem Filzhut, schwarz umrandeten Augen, schwarzem Haar, schwarzem Jäckchen, schwarzen Strümpfen eintrat, flüsterte mir Faustina ins Ohr:«Was macht der Deutsche hier? Was haben wir mit ihm noch zu tun, warum hast du ihn eingeladen?»
    Aber auch er ist hier zu Hause. Einen Moment lang, als sich der Juwelier vor Ottavia zum Gruß verbeugte und ihr mit einem kleinen Goldring mit eingefasstem Jaspis seine Aufwartung machte, spielte ich mit dem Gedanken, dass er dieser Gemahl werden könnte, auf den Ottavia so sehnsüchtig wartete. Letzten Endes ist er erst vierzig Jahre alt. Allerdings hat er sein Gleichgewicht verloren - sein Leben ist aus dem Takt geraten. Wer zu hoch hinaus will, stürzt eben in Tiefen, die er eigentlich verdient hat. In der Stadt erzählt man sich, dass er sich nicht mehr davon erholt habe. Dafür zollen ihm die Leute Respekt - und meiden ihn. Auf Dauer wird der Schmerz für andere langweilig. Natürlich, zum gegebenen Zeitpunkt sollen wir ihm Ausdruck verleihen - in wohlerzogener und angemessener Manier -, aber anschließend soll er wie ein Fieber vorübergehen. Sein Fieber ging jedoch nicht vorüber.
    Verblüfft über ein solch wertvolles Geschenk bedankte sich Ottavia. Da sie rot anlief und sich wunderte, weshalb Marco Augusta auf die Idee kam, ihr ausgerechnet diesen Stein zu schenken, muss er ihr wohl das Gleiche über die Wirkungskraft des Jaspis erzählt haben wie einst mir - von der Sonne gereinigt, besitzt er die Fähigkeit, wallendes Blut und lüsterne Begierden zu besänftigen. Der Juwelier kennt sämtliche alchimistischen Kräfte von Edelsteinen, denn mit nichts anderem hat er sich beschäftigt. Zuweilen kommt es mir so vor, als wäre auch sein Herz ein
Mineralgestein, so hart, als könnte ihm weder ein Messer noch Feuer eine Schramme zufügen, und als hätte er nur deswegen mit ihr zusammenleben können.
    Ottavia hatte ihn kennengelernt, als sie noch ein Kind war. Marietta gestand mir viele Jahre später, dass sie ihre Schwestern, während ich mit der Hochzeitvorbereitung beschäftigt war, heimlich zu seinem Laden«Im Zeichen der Tugend»geführt habe. Steiner arbeitete hinter dem Rialto in der Calle della Scimmia, zwischen der Osteria del Sole, die von aufdringlichen Matrosen frequentiert wurde, einem Bordell albanischer Freudenmädchen sowie der Werkstatt eines Kesselmachers, aus dem ohrenbetäubender Lärm drang. Marietta habe die Schwestern mitgenommen, da Kinder nicht lügen könnten. Wenn ihnen Marco Augusta nicht gefallen hätte, hätten sie es offen und ehrlich zugegeben. Und wäre das tatsächlich der Fall gewesen, dann gewiss aus einem gewichtigen Grund, witterten doch Kinder instinktiv, ob ein erwachsener Mensch dumm, gewalttätig oder falsch sei.
    In seinem Laden tat Marietta, als wollte sie etwas kaufen, sie probierte ein paar Ringe an und fragte den Juwelier, welcher Stein zu ihr passe.«Seht, Signora», erklärte ihr Marco Augusta,«alle in diesem Mondkreis natürlich entstandenen Steine bestehen aus vier Elementen: genauso die Edelsteine und genauso wir. Wir sind aus Luft, Wasser, Erde und Feuer, und ein jeder muss das in ihm vorwiegende Element und dessen Wirkkraft in sich ausfindig machen. In einigen Menschen und Edelsteinen überwiegt die lehmige Substanz, die Erde, in anderen das Wasser, also die feuchte, schmierige Substanz. In Euch überwiegt das Feuer. Daher», und da errötete Marietta,«ist Euer Stein der Topaz, der die Kraft besitzt, das Feuer zu bändigen, das Euch zu verschlingen droht.»Marietta schaute dem Juwelier verstört zu, wie er sämtliche Schubladen öffnete, die in Holzkästchen verwahrten Steine auf dem Ladentisch auslegte und versuchte, Marietta in ihre Geheimnisse einzuweihen. Allein die Mischung der Elemente - und
ihre gegenseitige Potenzierung - mache die Dinge kostbar und die Menschen glücklich. Reine Erde würde weder zu Stein noch

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