Tintorettos Engel
normal. Ich sollte versuchen, sie zu verstehen - anstatt über sie zu urteilen. Als junger Mensch gefielen mir solche Mädchen - so manche habe ich hofiert, eine sogar geheiratet.
Mit diesen Töchtern habe ich besonders wenig Zeit verbracht, Herr. Sie waren zwar die Zierde meines Alters, doch seitdem sich alles, was zu dieser Welt gehört, von mir entfernt hat, merke ich, dass ich die Mädchen nicht mehr brauche. Und wahrhaftig schickte ich sie, als ich die nötigen Dukaten für das Kostgeld zusammengespart hatte, zu ihren Schwestern nach Sankt Anna. Außer den Samen beizusteuern, der sie gezeugt hat, habe ich, so fürchte ich, nicht viel für Ottavia und Laura getan. Ich beschränkte mich darauf sicherzustellen, dass sie sich guter Gesundheit und eines gewissen Wohlstands erfreuten und eine ihrer Herkunft entsprechende Erziehung erhielten.
Ich weiß, was du jetzt sagen willst, Herr. Den Töchtern meines fortgeschrittenen Alters habe ich nicht die gleichen Möglichkeiten eingeräumt wie der Tochter meiner Lust. Ich lehrte sie nicht
zu malen - weder bei Licht noch bei Dunkelheit. Ich schickte sie nicht in die Musik- und Gesangsschule bei einem Maestro, der Lieder komponiert hat, an die sich ganz Venedig erinnern wird. Ich kaufte ihnen kein Cembalo mit einer Tastatur aus Ebenholz und Knochen, keine vergoldete Truhe aus Zypressenholz, weder Noten noch Musikbücher, ich weihte sie weder in die Madrigale von Willaert ein noch in die Geheimnisse der Improvisation. Ihnen zahlte ich keinen Tanzlehrer, der ihnen die Tänze beibrachte, die eine Frau kennen muss. Ihre Garderobe sollte mich nur das Allernötigste kosten. Für Marietta wählte ich dagegen höchstpersönlich die zarteste Seide, den weichsten Samt und die feinste Spitze aus. Ins Kloster nahmen die Mädchen Wollkleider und vier Ellen grobes Leinen mit. Elegant zu sein nützt ihnen da ja sowieso nichts. Schließlich sollen Nonnen aus ihnen werden.
Die Mädchen haben aber auch wahrhaft Mäusehirne. Laura kann nicht lesen. Ottavia schreibt wie eine Waschfrau. Als sie noch bei uns lebte, verkroch sie sich mit der Köchin in die Küche, wo sie den Straßenhändlerinnen lauschten, die gegen ein paar Münzen von Tür zu Tür zogen und den Frauen aus gutem Hause anstößige Liebesgeschichten von Kurtisanen und blutige Einzelheiten über öffentliche Hinrichtungen erzählten. Musik deprimiert die Mädchen. Natur macht sie traurig. Vor Tieren haben sie Angst. Blumen nehmen sie nur bewusst wahr, wenn sie sie pflücken. Das einzige Wesen der Schöpfung, das sie begeistert, ist das Männchen der Gattung Mensch. Wie zwei Anatomiewissenschaftlerinnen nehmen sie jedes Exemplar auseinander, das das Parlatorium in ihrem Kloster betritt, und erhoffen sich, dass es sich ihnen als zukünftiger Ehemann anbietet. Sie wägen sein Einkommen ab, seinen sozialen Rang, Aussehen, Charakter, Familie. Anstatt ihrem alten Vater Gesellschaft zu leisten, verbrachten sie, kaum heimgekehrt, den lieben langen Tag damit, sich die Haare zu blondieren und nach der neuesten Mode zu frisieren, indem sie sie zu beiden Seiten der Stirn auftürmten. Wie zwei Halbmonde,
sagen sie - wie zwei Hörner, sage ich. Sie legten sich die Jadeanhänger und Mariettas Karneolohrringe an, auch Mariettas Kleider. Sie gingen in den zweiten Stock hinauf und leerten ihren Kleiderschrank. Die Dienstmädchen mussten die Sachen bis zum letzten Körnchen Staub ausschütteln. Dann ließen sie sie mit Lavendel bestäuben und bürsten, damit die Farben wieder kräftig leuchteten. Laura entschied sich für ein blaues Seidenkleid, Ottavia wählte ein purpurrotes. Meine vom Opium getrübten Augen brauchten eine Weile, bis ich es endlich erkannte. Ottavia trug das rote Kleid von Mantua. Die Mädchen hofften, ich würde das Abendessen für sie ausrichten. Kurz gesagt, alles, was sie wollten, war ein Mann. Ein durchaus natürlicher, rechtmäßiger und sogar hochheiliger Wunsch. Ich könnte nicht sagen, warum ich ihnen diesen nicht zu erfüllen vermochte.
Wir wollten gerade hinausgehen und die Gäste empfangen, als ich Ottavia nach dem Grund für die Klagen über ihr schlechtes Benehmen fragte, die aus dem Kloster an mich herangetragen wurden. Sie rede ständig, lache ständig und zeige sich ständig am Gitter zum Parlatorium. Ottavia erwiderte, ich solle mich nicht in ihre Angelegenheiten mischen, die mich ja auch sonst so wenig interessierten, dass ich nicht einmal mitbekommen hätte, wenn ihnen diesen Winter ein Leid widerfahren
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