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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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junge Fremde Marietta, ob sie ihm eine Locke ihres Haars schenke. Geistesgegenwärtig wie sie war, bat sie ihn im Gegenzug um die mit Wald und Vögeln bedruckte Seidensimarre. Der Baron schwor, dass er sie ihr noch in derselben Nacht zukommen lassen werde. Marietta machte einen Knicks, trat einen Schritt vor und stellte sich auf die Brüstung. Es war ein klarer Sommerabend. Ihr Kleid hatte die reine blaue Farbe des Lapislazuli, die mit dem ruhigen Blau des Meeres verschwamm. Der Juwelier hätte jetzt gesagt, die Elemente würden sich vermischen, um noch größere Schönheit hervorzubringen, die Seide würde zu Wasser und sie selbst zu diesem himmelblauen, mit Sternen übersäten Stein. Der Horizont hinter dem Lido war wie eine Linie auf einem Blatt Papier deutlich zu erkennen.«Jacomo», sagte sie gedankenverloren,«hast du dich jemals gefragt, was sich hinter dem Horizont befindet?»
    Eigentlich wollte ich ihr antworten, dass sich hinter dem, was wir nicht sehen, Gott befinde. Seltsamerweise erwiderte ich jedoch etwas ganz anderes. Ich reichte ihr meine Hand und half ihr, ins Boot zu steigen, dessen Bug Richtung Stadt zeigte.«Mein Funke», fragte ich zurück,«bist du glücklich?»Marietta drehte sich ein letztes Mal lächelnd zu den geheimnisvollen Botschaftern aus Ficenga um.«Mein Glück, Vater, ist wie der Horizont. Nie habe ich es geschafft, ihn zu erreichen.»
     
    Das Mohnpulver in dem Glasgefäß ist weiß - es sieht aus wie Mehl und ist trocken wie Kalk. Sein Geruch ist merkwürdig,
mit nichts vergleichbar. Es ist die einzige Arznei, die das endlose Kreisen meiner Gedanken verhindert und mir eine Pause vor mir selbst ermöglicht. Auf der Zunge hinterlässt sie einen bitteren Geschmack. In meinem Kopf dröhnte es vor lauter Stimmen wie in einem überfüllten Raum. Zum wiederholten Mal löste Faustina das Pulver in einem Glas Wein auf, das ich in einem Zug leerte. Sie schaute mir zu, während mein Bewusstsein zu dämmern begann. Und als sie so über mich wachte, fiel mir auf, dass ihr Haar am Ansatz nicht mehr blond war. Es wächst so schnell nach, dass sie mit dem Färben nicht hinterherkommt. Dieser Gedanke versetzte mir einen Stich in der Brust, und mit der Hand ins Leere greifend, suchte ich nach ihr, um sie zu streicheln. Faustina verstand mich falsch und wischte mir meine Stirn trocken. Mir war, als wollte sie mir etwas sagen, aber vielleicht wollte sie sich einfach nur um mich kümmern. Unter dem Einfluss des Opiums schlief ich endlich ein, oder auch nicht, ich schwebte über meinem Körper - leicht wie in Luft, Rauch und Geist verwandelt. Von Weitem schaute ich auf mich, auf einen alten Körper, einen leeren Sack, meine Füße lagen unter, meine Hände auf der Decke. So sehe ich mich noch jetzt.
    Das Dienstmädchen packte die Koffer. Sie faltete Wäsche, Laken, Handtücher und Tischdecken. Sie legte den Kamm und die Bürste mit dem Elfenbeingriff in die Truhe, außerdem Nähnadeln, Fingerhut, Pinzetten zum Zupfen der Augenbrauen, Salben für die Haut und Balsam für die Haare, Pantoffeln und Fächer, den Heiligenschrein mit den glasigen Strohhalmen aus dem Stall von Bethlehem, den Faustina einem Pilger aus dem Heiligen Land abgekauft hatte, das Kreuz aus Obsidian mit dem silbernen Christus, Nachthemden und meinen Morgenmantel. Das Wort«Carpenedo»stieg aus den Tiefen meines Bewusstseins auf, aber ich wollte mich nicht erinnern - ich kann mich nicht erinnern, Herr.
    Ich tauchte erneut in die Benommenheit ab, in einen wahnsinnigen Wirbel aus Erscheinungen, als in meinen Ohren die Musik zu schwingen begann, die ich mit ihr gespielt hatte. Ich sah mich,
die anderen, die tatsächlich um mich herumschwirrten und die Truhen befüllten, und ich sah Marietta im weißen Hemd über mir schweben, an einem Seil um die Hüfte aufgehängt, das sich unaufhörlich um sich selbst wickelte. Schon schlummerte ich wieder ein, von meinem Körper entrückt, den ich wie ein Zimmer einfach verließ - für Stunden, vielleicht einen ganzen Tag entfernt, um erneut das Wort Carpenedo zu hören, als ich die Augen wieder öffnete und Faustina sah, die es soeben in den Mund genommen hatte. Sie war die weiße, über mich gebeugte Gestalt, die ihre Wange auf meine Stirn legte, um mein stetig steigendes Fieber zu messen.«Ruh dich aus, Jacomo», sagte sie,«die vielen Leute um dich herum haben dich etwas überanstrengt, nun schlaf ein wenig, sobald du wieder bei Kräften bist, fahren wir, ich werde es schon schaffen, dich nach

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