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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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kann mich jeder, der will, aufsuchen. Aber sie, wo ist sie?
    Ich kann sie nicht in ihren Gemälden suchen gehen, weil sie auf meine Art gemalt hat - um ich zu sein. Anfangs verlangte ich es ihr, später waren es die Kunden, und am Ende hat sie es selbst gewollt.«Die größte Genugtuung, die ich aus dem Malen ziehe», sagte sie eines Tages zu mir,«ist weder, wenn meine Dinge deinen ähneln, noch, wenn jemand das tatsächlich annimmt, sondern wenn ich selbst vergesse, sie gemalt zu haben und glaube, sie wären von dir. Diese Illusion ist mein größter Erfolg.»Doch das war auch gleichzeitig ihr Schaden. Mariettas beste Bilder waren
meine. Alle anderen haben keinen Autor und überleben wie die namenlosen Gegenstände unseres Alltags - Möbel, Betten, Geschirr. Ich habe mir das zurückgeholt, was ich sie lehrte. Mein Geschenk an sie war wahrlich nicht uneigennützig.
    Ich kann sie in keinen Briefen suchen gehen. In sechsunddreißig Jahren waren wir lediglich die paar Wochen voneinander getrennt, die ich mit meiner Frau in Mantua verbracht hatte - und als wir schließlich auseinandergingen, hatten wir uns nichts mehr zu sagen. Im Übrigen hätte ich sie gar nicht in ein Buch vertieft sehen wollen. Da ich sie nicht zur Schule geschickt hatte, konnte sie kaum schreiben: Die Malerei und die Musik sollten ihre Sprache sein, Wörter brauchte sie nicht. Die hätten sie nur von mir entfernt. Ihre Stimme wollte ich hören, die Modulationen ihres Gesangs, den Akzent, der sie nicht bloß mit Venedig verankerte, sondern mit diesem Stadtteil, diesem Fluss, mit mir. Der unnachahmliche Klang ihrer Stimme, wenn sie ein Lied anstimmte, wenn sie, ohne es zu merken, beim Malen einen deutschen Kinderreim aufsagte, wenn sie stundenlang darüber sprach, wie sie bestimmte Farbabstufungen von Orange, Rauschgelb, Indigoblau oder die Lichtreflexe einer Fackel hinbekam. Ihre Stimme, als sie mir erzählte, dass sie hartnäckig versuche, aus einem sündhaft teuren Lack einen zarten, malvenfarbigen Ton zu erhalten, um die Melancholie farblich abzubilden. Ihre Stimme, als sie mir ein Lederband mit einem Chalzedon um den Hals hängte und sagte, der Stein helfe, Begierden zu zügeln und vertreibe trübselige Gedanken und Ideen. Und dann knöpfte sie ihren Kittel auf und zeigte mir, dass auch sie ihn trug. Die Töne, die ihre Finger aus der Tastatur hervorzauberten, die ihre Stimme beim Singen erzeugten, haben sich in Luft aufgelöst, sind mit ihr entschwunden. Nicht einmal die Musik, der ich nur noch im Traum lauschen kann, finde ich mehr wieder.
    Als unser gemeinsames Leben vorbei war, glaubte ich, ihren Weg akzeptieren zu können. Ich glaubte, letzten Endes würde sie
doch mir gehören - diese Gewissheit hat mich dermaßen besänftigt, dass ich sogar davon ausging, unsere Trennung aushalten zu können. Nun lernte ich jedoch eine andere Marietta kennen, eine Frau, die ich zwar auch mochte, die aber für mich unerreichbar war. Die Vergangenheit zerbrach in meinen Händen in Stücke, die nun in einem seltsamen Licht aufleuchten. Und ich kann die Quelle dieses Lichts nirgends entdecken. Unser Leben ist vergleichbar geworden mit den Bildern, die ich gemalt habe: Die eine Lichtquelle ist immer gut und deutlich zu sehen - eine Öllampe, eine Laterne, ein Fenster. Die andere aber ist irgendwo versteckt und wird auf der Oberfläche der Leinwand niemals ersichtlich sein.
    Ihre Lichtquelle habe ich nicht gefunden. Bei dem Versuch, die Abfolge neu zu ordnen, Szenen erneut durchzuspielen, suchte ich nach einem Durchlass, der mich zu ihr führte - und ich fragte mich, ob ich sie, wenn ich diesen Durchlass einmal gefunden hätte, retten könnte. Aber ich fand ihn nicht. Sie hat ihre Komödie weitergespielt, und ich konnte nichts anderes tun, als sie zu unterstützen. Vielleicht aber waren ihre Lügen ihr Geschenk an mich. So konnte ich ungestört und bedenkenlos weitermalen. Bis ich am Ende mein Vorhaben vollendet haben würde. Genau das wollte ich ja - und sie auch. Sie wusste, dass ich das womöglich ohnehin getan hätte. Das wollte sie aber lieber nicht auf die Probe stellen. Dafür müsste ich ihr dankbar sein.
    Mariettas Leben spielte sich vor meinen Augen ab - nie aber hatte ich den richtigen Blick für sie, Herr. Im Grunde kennen sich Familienmitglieder untereinander recht wenig. Tag für Tag leben sie auf einem Haufen versammelt nebeneinanderher: Ihre Blicke, ihr Raum, ihre Bewegungen überlagern sich ununterbrochen. Doch eine zu große Nähe hindert sie

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