Tintorettos Engel
ins Kloster geschickt, dass du noch nicht einmal das Evangelium kennst!», seufzte ich.«Josef von Arimathäa ist der wohlhabende Pharisäer, der sich mit seiner Demut das Recht erworben hat, den Leichnam Christi in das Grab legen zu lassen, das er für sich selbst vorgesehen hatte.»
«Du willst mich wohl auf den Arm nehmen!», sagte Ottavia lachend.«Ich weiß, wer Josef von Arimathäa ist, so dumm bin ich nun auch wieder nicht. Aber du hast ihm deinen Senatorentalar angelegt, den du nicht mehr anziehst, obwohl Mama sich nichts sehnlicher wünscht und nun erzürnt und verbittert darüber ist, und die Augen sind auch deine. Ich meine, gewiss ist es Josef von Arimathäa, aber auch du bist es und Gottvater. Das heißt, du bist der Senator, der Alte und Gott.»
Sie schwieg eine Weile und schaute mich erwartungsvoll an, aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Da warf sie sich mit ihrem gesamten Gewicht auf mich. Leicht war sie nicht, sie hatte einen fülligen Körper und stand gut im Futter.«In diesem traurigen Gemälde hast du dir ein Selbstbildnis angefertigt. Du malst Dinge, die einen traurig stimmen, Papa. Warum denkst du dir keine schönen Geschichten mehr aus, mit hübsch gekleideten Menschen, die sich amüsieren, Liebe machen und glücklich sind? Was weiß ich, die Hochzeit des Peleus, eine schöne Susanne, Leda mit dem unehrlichen Schwan, der seinen Schnabel in ihren Schoß steckt, Danaë mit dem Goldregen zwischen den Beinen … Das konntest du doch so gut, diese Geschichten. Und jetzt malst du sie gar nicht mehr. Ich weiß, dass du darum nicht mehr gebeten wirst, weil es verboten ist, laszive Figuren zu malen, aber du könntest es ja trotzdem tun, wenigstens für deine Freunde, für dich oder für uns. Auch wenn du glaubst, dass ich dumm bin und nichts verstehe. Ich verstehe deine Arbeit durchaus, mir gefallen alle deine Bilder. Weil du sie für alle machst und eben auch für mich. Viele traurige Dinge sind zwar geschehen, aber wir sind ja noch hier, alles ist in Ordnung, uns geht es gut, und auch dir wird es bald wieder gut gehen, du hast nur etwas Fieber, und der Appetit ist dir vergangen, aber der kommt schon wieder, nicht wahr? So alt bist du noch nicht, für eine Waise bin ich zu jung. Wir haben kaum Zeit miteinander verbracht, und du weißt nichts von mir, du kennst mich überhaupt nicht, aber du wirst schon sehen, dass es dir nicht leidtun wird, dass ich geboren wurde, ich werde bei dir sein, wenn du wirklich alt bist, ich kann lustig sein, meine Späße bringen alle zum Lachen, ich werde dich schon wieder aufheitern. Was magst du am liebsten? Hähnchen? Rebhuhn? Fasan? Ich werde einen Pfau für dich kaufen, liebster Vater. Den bereite ich dir mit Senfsauce zu, so etwas würde der Köchin nicht einmal im Traum einfallen, du musst mir nur Gelegenheit dazu geben und etwas Zeit …»
«Lass ihn in Frieden, Ottavia», fuhr Laura sie an und steckte ihr anmutiges kleines Antlitz durch den Bettvorhang.«Siehst du nicht, dass er dir nicht zuhört?»Ungehalten schüttelte Ottavia meine Schultern. Ich machte meine Augen jedoch nicht wieder auf.«Du hast mir versprochen, mich auf ein Gemälde für eine Kirche zu malen, Papa», sagte sie, und ihre Stimme überschlug sich,«ich in einem mit Goldmehl bestäubten Kleid, hinreißend schön, dass alle sehen können, wie lieb du mich hast, glaub ja nicht, ich würde dir verzeihen, wenn du dein Versprechen nicht hältst!»
28. Mai 1594
Zwölfter Fiebertag
Was von mir bleiben wird, welche Anekdoten meine Schüler und Biografen von mir erzählen werden, ob der eine oder andere mich wiedererkennt oder mit einem anderen Künstler verwechselt, all das interessiert mich nicht. Welcher Fisch am Haken hängt, wird durch die Angel bestimmt - einen Wal fängt man nicht mit einer Fliege. In den Erzählungen ist das Leben ein Netz aus Verherrlichung und Blendwerk, und in den weiten Maschen des Gedächtnisses geht das Wesentliche verloren. Es ist ein Netz aus Geheimnissen, Zensuren, Ausbesserungen, Auslassungen, Erfindungen und Lügen - alles andere als das tatsächlich erlebte Leben. Heute weiß ich, dass es völlig nutzlos ist, Gerüchte zu unterdrücken, Ansichten zu korrigieren, Lügen richtigzustellen: Es ist, als wollte man den Wind einsperren. Diese Erkenntnis kam mir jedoch zu spät. Mein wirkliches Leben ist dort, wo es alle sehen können - in den Kirchen und Häusern, an den Fassaden der Paläste, in den Herrschaftsschlössern, in der Scuola di San Rocco. Dort
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