Tintorettos Engel
dieser Franzose habe ein Buch mit Essays herausgebracht und sei ein Meister der Prosa geworden, er gelte als Frankreichs großartigster Schriftsteller, der beste aller Zeiten. Doch noch heute glaubt Dominico nicht daran.«Montaigne ist nicht einen Deut wert», sagte er erst kürzlich verächtlich.
Im Alter von fünfzehn Jahren konnte Dominico den Rasenden Roland und Petrarcas Canzoniere auswendig und notierte endlos lange Wortreihen in sein Heft. Fisch, Tisch, frisch, zisch, Frosch, drosch, Dorsch, Nadel, Tadel, Adel und so weiter. Er war wie besessen von Reimen, Nachklängen und Assonanzen und von der Entdeckung, dass sich inhaltlich gegensätzliche Wörter reimen: Thron und Hohn, Nacht und Schacht, Reife und Seife, Furz und Sturz. Unter Tausenden von Wörtern das unerkannte Zwillingswort herauszufinden, das alles auffliegen lässt und jegliches Rätsel knackt, faszinierte ihn ebenso wie die vollkommene Freiheit, Wörter kombinieren und Dinge nebeneinanderstellen zu können, wie man es in der Wirklichkeit nie tun würde.«Diese Freiheit», so Dominico,«ist der Zauber der Literatur.»
Ob Dominicos jugendliche Gedichte von Bedeutung waren, kann ich nicht einschätzen. Ich verstand damals kein Latein. O formosa Marietta , lautete eines, nihil te absente videtur / dulce mihi: nunc et nitido vere omnia vident / et vario resonant volucrum Venetia pulchra cantu .«Was heißt das?», wollten wir wissen.«Nichts», erwiderte er.«Hauptsache, es klingt gut.» Ipse feram quae grata tibi , rezitierte er, Tu basia junge, / gaudia, Marietta, nec mihi grata nega. / Cras, ubi nox aderit, invido elabere patri, / albaque inter lintea ad mea dona veni .«Basia sind die Küsse», sagte Marietta lachend,«komm schon, Menego, das ist ein Liebesgedicht, du lädst die Schöne ein, dich unter deinen Laken zu küssen, aber warum nimmst du ausgerechnet meinen Namen?»«Weil er in den Hexameter passt», antwortete Dominico mit hochrotem Gesicht.
Marietta neckte am liebsten Dominico - denn von allen dreien war er der ernsthafteste und zurückhaltendste Bruder, der sich nie eine Blöße gab. Einzig in seinen Gedichten kam ein anderer, gefühlvoller und leidenschaftlicher Dominico zum Vorschein - von dem allerdings im Alltag nicht ein Hauch zu spüren war. Marietta bemühte sich, in dem scheuen und schweigsamen Jungen den geistreichen Verehrer der reimenden Kunst zu entdecken. Wegen seines empfindlichen und stolzen Wesens - und vielleicht auch wegen seiner dunklen, spanisch wirkenden Augen - gab sie ihm den Spitznamen Hidalgo.«Wenn du das Zwillingswort zu Hidalgo findest», versprach sie ihm,«werde ich dir unter deinem Bettlaken so viele Küsse geben, wie du willst, denn dann bist du wahrhaftig brillanter als Petrarca.»
Vor uns hielt Dominico seine Liebesgedichte geheim, ihr jedoch las er sie vor. Auf venezianisch dichtete er allerdings nie, war er doch der Meinung, dass in der Sprache der Fährleute und Mägde die Liebe zu einem bloßen Aufeinandertreffen von Geschlechtsorganen entwertet werde, sei es in einer rußschwarzen Küche, während die am Ofen kauernde Katze ihre Mäuse verdaue, sei es unter der Wachsdecke einer Gondel, während die Lagune ihren ekelhaften Gestank verströme. Die Liebe, von der er als kleiner Junge schwärmte, war dagegen eine Vereinigung gleichgesinnter Seelen, eine Übereinstimmung der Geister, die nichts mit dem Flüssigkeitshaushalt im menschlichen Körper zu tun habe. Da beide tagsüber in meiner Werkstatt mit Malen beschäftigt waren, las Dominico Marietta seine Gedichte während des Frühstücks vor, zwischen Kindergeschrei und klapperndem Geschirr. Er zwang sie förmlich zum Zuhören, wenn sie sich bei fröstelnder Morgendämmerung über den noch dampfenden Bottich beugte und wie verzaubert innehielt, um seinen Worten zu lauschen, obgleich sie ihn anschließend ausschimpfte, da sie sich nun ihr Gesicht wegen seinem Gedicht mit kaltem Wasser waschen könne. Gesicht/Gedicht - fügte er der Spalte mit den Reimwörtern hinzu. Marietta
hatte keine Ahnung von Poesie. Ihr zufolge waren Dominicos Verse großartig. Der passende Reim auf Hidalgo aber war noch nicht gefunden worden.
Als ich Dominico verkündete, dass er Priester werden müsse, wenn er sich ernsthaft der Dichtung widmen und sie zu seinem Beruf machen wolle, da ein mittelloser junger Mann wie er andernfalls nicht zurechtkomme, rechnete ich mit Widerspruch; denn sein Hauslehrer Evangelista hatte ihm mehr als einmal und auch in meiner Gegenwart
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