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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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nach seinem letzten Atemzug die Sonne dreimal untergegangen sei, könne der Scheiterhaufen angezündet werden, so lange müsse man warten.
    «Warum?», fragt der Händler oder Missionar. Der König brauche drei Tage zur Durchquerung der Reiche, die zwischen ihm und der Ewigkeit liegen. Werde das Feuer vorher angezündet, habe der Verstorbene keine Zeit, sie zu durchqueren. Seine Seele würde für immer auf der Erde umherirren und versuchen, sich das wiederzuholen, was man ihr genommen hat, das zu verstehen, was sie nicht verstanden hat, und das zu vollenden, was sie nicht vollendet hat. Da sie sich nie mehr von ihrer Vergangenheit lösen könne, um den Weg in den Himmel zu finden, werde sie den Lebenden und sich selbst zur ewigen Last.
    «Und welches sind die drei Reiche?», fragten unsere Kinder aufgeregt.«Wartet, so weit bin ich noch nicht», antwortete
Marietta. Sie blätterte um und suchte nach der Antwort, fand sie aber nirgends. Denn die Dorf bewohner wollen sie dem Reisenden nicht geben - er müsse von allein daraufkommen. Neugierig beschließt er, drei Tage im Dorf auf das Anzünden des Feuers zu warten. Er findet Unterkunft in einer Hütte, währenddessen die Bewohner alles, was dem Toten auf dieser Erde gehört hat und ihm zu verdanken ist, auf den Scheiterhaufen stapeln: Kleider, Schuhe, Hüte, Kuhglocken, Schwerter, Rüstung, Schutzschilde, Steingut, aber auch reich verzierte Thronstühle, Goldschmuck und Hunderte kostbarer Gegenstände - denn der Tote war ein großer König. Aus weiter Ferne kommen all seine Kinder, Untertanen und Freunde angereist, um sich von ihm zu verabschieden. Als die Sonne schließlich zum dritten Mal aufgeht, wird eine Fackel an die Reisigbündel gehalten, und das Feuer lodert endlich auf.«Die drei Reiche», sagt am Ende der Besucher,«sind die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Der Tote hat sie durchquert und ist nun frei.»
    «Warum sind es nicht die Hölle, das Purgatorium und das Paradies, Marietta?», fragten die Mädchen.«Sind das nicht die drei Reiche? Gibt es sie für die Heiden nicht?»«Nein», erwiderte sie,«diese drei Reiche gibt es nur für die, die daran glauben.»«Wenn man also nicht glaubt, gibt es dann auch Gott nicht, Papa?», fragte mich Perina, die völlig verwirrt zu mir herübergeeilt war. Solche Fragen brachten mich in Verlegenheit, zumal ich mir nicht sicher war, ob ich die Geschichte des Reisenden richtig verstanden hatte.«Der Tote», wagte ich eine Erklärung,«hat das Geheimnis des Glaubens geschaut, daher weiß er, was hinter der Stille des Himmels liegt.»«Und was ist da?»«Weiß ich nicht, meine lieben Kinder, ich war noch nie tot.»
     
    Ein jeder erinnert sich an den Tag, an dem das Alter einsetzt. Viele Männer werden im Bett vom Alter überrascht. Eines Nachts, neben einer noch so geschickten Hure oder der heiß geliebten
Frau, richtet sich auf einmal der Pfahl nicht mehr auf und gibt der Begierde einen Korb - bleibt weich, reglos und geknickt. Für andere kommt das Alter mit der Inkontinenz, der schwachen Blase oder einer Fistel am After. Auch ich erinnere mich an jenen Tag. Mein Stängel hat zwar nie den Kopf hängen lassen, und ich finde noch immer Gefallen an meiner Frau, die ich kein einziges Mal enttäuscht habe. Ich hatte auch nie ein brennendes Gefühl am Schließmuskel, trüben Urin, Nierensteine oder Herzschlagfehler. Mein Alter wog vielmehr neun Pfund, hatte dichten Flaum auf dem Kopf, zwei Füße, zwei Hände, trübe blaugrüne Augen und eine Nabelschnur zwischen den Beinen hängen. Mein Alter war männlich und trug meinen Namen. Denn Marietta hat ihren Sohn Jacometto genannt.
    Fast sechsunddreißig Stunden lang zupfte ich in meinem Atelier an der Laute herum. Es war Anfang August, das Atmen fiel schwer. Die Saiten glitten von meinen schweißnassen Fingern ab. Kein Lüftchen regte sich. Vom Kanal her roch es faulig. Ich hatte nichts zu tun. Keine Aufträge. Ich war vollkommen leer. Mein Körper aber war flammendheiß, und mein Hirn rauchte.
    Mein Enkel hat auf sich warten lassen. Vielleicht wollte er gar nicht geboren werden. Wäre er bloß nie gekommen. Wäre er doch einfach ein Wunsch oder ein Traum geblieben. Jacometto jedoch war kein Traum - er hat gelebt. Denn eines schönen Tages brachte ich ihm unter der Pergola in Carpenedo das Laufen bei, und er sah mich an, als könnte ich ihn halten und beschützen. Mit welcher Erleichterung ist er begrüßt worden - wie eine Gabe, ein Wunder. Aber weder um das eine noch

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