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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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erfahren hat, dass die Armen von Venedig auf den Feldern hinter den Kirchen begraben wurden, denn sie kam plötzlich auf die fixe Idee, genau dort Blumen pflücken zu gehen, sie in Dosen aufzubewahren oder zwischen den Bibelseiten zu trocknen. Marietta habe eine Leidenschaft für Blumen gehabt, klärte mich meine Gemahlin auf, ob ich es nicht bemerkt hätte? Unentwegt habe sie sie gezeichnet.«Warum hast du mir das nie gesagt?», wollte ich von ihr wissen.«Weil wir so manches Geheimnis geteilt haben», erwiderte Faustina. Mich hat Marietta immerzu nur mit ihrer Fröhlichkeit beschenkt und zu jedem Zeitpunkt mit Freude erfüllt.
    Um sie nicht darin zu bestärken, den Dingen nachzutrauern, die sie verloren oder entbehrt hatte, habe auch ich versucht, Marietta die Lust am Leben zu vermitteln. Ich ermunterte sie, alles, was ihr Schmerzen bereitete, zu vergessen oder außer Acht zu lassen. Wenn eine Orange zu bitter schmeckte, sollte sie sie ausspucken, wenn jemand Galle im Herz und auf der Zunge trug, riet ich ihr, der Person aus dem Weg zu gehen. Ich ermunterte sie hingegen, ihre Aufmerksamkeit auf die Schönheiten der Schöpfung zu richten. Wenn wir unterwegs zu Kunden waren, wies mich Marietta mal verzückt auf einen goldenen Gondelschnabel hin, mal auf ein gemeißeltes Säulenkapitell, hier auf die Form einer Wolke oder da auf den prallen Hintern eines Hafenarbeiters. Sie hatte eine besondere Ausstrahlung. Ihre Fragen waren präzise, und ihr Geist zeugte von scharfer Beobachtungsgabe.«Ist dir schon mal aufgefallen, Meister», fragte sie mich eines Tages und stellte sich auf Zehenspitzen, um eine in ihrer Knospe verborgene Rosenblüte zu streicheln,«ist dir jemals aufgefallen, dass auch Blumen schlafen? Erst in der Morgendämmerung strecken sie wieder ihre Blütenblätter aus.»In ihrer Hand erwachte die Rose zu neuem Leben.«Blumen sind wie Frauen», sagte ich,«sie arbeiten nicht, plagen sich nicht, tanzen im Wind und brauchen lediglich schön zu sein.»
Sieh nur, Herr, welch wertvolle Gabe Marietta besaß. Es war ihre Fähigkeit, oberhalb des alles erdrückenden, grauen Schleiers zu schweben. Wenn ich heute an sie denke, erscheint eine Libelle vor meinem geistigen Auge, die im Flug die Wasseroberfläche streift und sich mit einer solchen Leichtigkeit auf sie setzt, dass diese es nicht einmal spürt.
    Sieh nur, Herr, ich, der die Gespräche mit Kindern zeitlebens nicht ertrug, ich, den ihre monotone Fragerei nervös machte, gab mich selbst ihren absonderlichsten Fragen hin. Wo leben die Leute, die dir im Traum begegnen? Können Katzen lachen? Wörter heilen? Warum reden die Leute dann so viel? Warum sagst du, wenn du mit Leuten redest, nicht das, was du denkst, sondern das, was du nicht denkst? Wofür hat man Haare am Körper, und warum lassen sich Männer den Bart wachsen? Warum sagt man, dass Väter und Kinder dasselbe Blut haben? Mal akzeptierte Marietta meine Antworten, mal nicht. Sie lernte jedoch schnell und wurde es nie leid. Stundenlang konnte sie im Schneidersitz auf der Erde sitzen und an einem Profil oder der Rundung eines Rückens zeichnen. Ebenso an einer Ameise oder der Äderung eines Blattes, denn ich hatte sie gelehrt, dass die Unendlichkeit in den kleinsten Dingen verborgen lag.
     
    Marietta verstand meine Witze und spielte mir gern den Ball zu. Gemeinsam hatten wir viel Freude. Wenn mir auf der Straße jemand begegnete, den ich nicht mochte, taten wir so, als sprächen wir kroatisch, griechisch oder illyrisch, verdrückten uns in dunkle Häuserdurchgänge, sprangen zum Weinlieferanten aufs Boot oder auf Fähren, die bereits abgelegt hatten. Sie verstand aber auch, wenn ich gereizt war, und ertrug meine plötzlichen Wutausbrüche mit Fassung, so wie der Sand ein Sommergewitter - das ihn kaum benässt und sofort von ihm aufgesogen wird. Sie verstand meinen Trübsinn, meine Stimmungswechsel und Abneigungen. Sie witterte meine Gegner, noch ehe ich sie ihr zeigen konnte.

    Sie begleitete mich, wenn ich beim Farbenhändler Besorgungen machen musste. Ich zeigte ihr, woran man Feinlack, Umbra, Zinnober, Drachenblut, Blei und Harz zum Lackieren der Bilder erkennt. In den Läden zwischen den Regalen und Gefäßen traf ich auf meine Kollegen - die ich ansonsten mied und die auch mich nicht besuchen kamen. Kein einziges Mal habe ich mich mit ihnen unterhalten. Ich wollte für mich bleiben, in Begleitung meines kleinen Gehilfen. Dass ihre Feindseligkeit mich aufstachelte, entging Marietta nicht. Sie ließ

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