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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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der feiernden Menge, die es in Wirklichkeit auf ihre Edelsteine abgesehen hatte, stürmisch umjubelt. Wenigstens wurde kein Zuschauer im Gedränge
zerquetscht. Souverän trugen die Laiendarsteller ihre Rollen vor. Auch die Musiker spielten einwandfrei ihre Partitur, und die Sänger lagen kein einziges Mal daneben. Von all dem bekam ich jedoch nichts mit. Selbst beim großen Finale am Abend war ich nicht dabei, als im schummrigen Fackellicht der letzte Reiter eingaloppierte: der siegessichere Tod mit der Sense in der Hand. Ich wohnte dem Maskenzug, für den ich den ganzen Winter über geschuftet und meine Arbeit, meine Familie und mich selbst vernachlässigt hatte, nicht bei.
    Bevor sie aus Madonna dell’Orto hinausliefen, hatte ich mich noch unter den Chor der Jungfrauen mischen können. Erschrocken machten die Mädchen mir den Weg frei. Sie trugen weiße Gewänder, hatten Kränze aus seidenen Zitronenblüten auf dem Kopf und leuchtendweiße Kerzen in der Hand. Mit ihrem kurzen, goldschimmernden Zopf unter dem Krönchen sah Marietta wahrhaft bezaubernd aus. Ihr Antlitz strahlte eine solch grenzenlose Glückseligkeit aus, dass ein Geständnis überflüssig war. Mehr brauchte ich nicht zu wissen.«Jacomo!», rief Marietta, als sie mich kommen sah. Sie war so sorglos glücklich, mich zu sehen und in dem durchsichtigen Stofffetzen einen solch schönen, atemberaubenden Anblick zur Schau stellen zu können. Ich versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Ihr fiel die Kerze aus der Hand.
    Aus allen Kirchenschiffen hallten die Töne wider, prallten von den Gewölben zurück, Hunderte von Stimmen verschmolzen zu einer einzigen Musik. Einer himmlischen Musik. Frei von jeglicher Sünde. Was gibt es Göttlicheres als Musik? Nach und nach klang sie aus und verebbte zu reinen Schwingungen der Seele: Chor, Musiker, Schausteller, Fahnenschwinger, Fackelträger und die weißen Jungfrauen - alle waren hinausgezogen.«Jacomo», stotterte Marietta und fasste sich an Wange, Mund und die blutende Nase,«Papa.»Unzählige zitternde Flämmchen rangen auf Kerzenstummeln mit ihrem Ende. Weihrauch waberte rings um die Säulen. Meine Kirche, mein Viertel, mein Funke. Tugend, Sieg,
der Karnevalszug. Zerschmettert. Siebzehn Jahre wie Glas zerschmettert. Und sie, ein beflecktes Licht. Ekel. Entsetzen. In der Dunkelheit aufpochende, purpurrote Flecken. Blutstropfen auf dem weißen Kleid.«Papa», wiederholte Marietta schluchzend,«es tut mir leid, Papa.»
    «Ich schlag ihm die Zähne aus», sagte ich.«Dem reiß ich die Eier in Stücke. Wenn du etwas zu deiner Entlastung zu sagen hast, dann sag es jetzt, es ist deine letzte Gelegenheit. Ich werde ihn nicht vor den Richter stellen, ich werde ihn vernichten. Sag mir, ob er dir Gewalt angetan hat, und Gott, unser gütiger Vater, gebe mir die Kraft, dir zu verzeihen.»«Es ist nicht seine Schuld», nuschelte sie, ohne mich anzuschauen, während sie versuchte, mit den Fingern das Nasenbluten zu stillen.«Kein bisschen Gewalt hat er mir angetan, es ist alles meine Schuld, mein Kopf ist völlig verdreht, und ich schäme mich so sehr, aber ich schaffe es einfach nicht, davon unberührt zu bleiben, wie Dornen drücken sich die Noten in mich hinein, man kann Musik nicht von der Liebe trennen, was gibt es Verlockenderes als die Musik? Ich wollte ja gar nicht Musik studieren, wie oft habe ich dich gefragt: Warum? Wozu brauche ich das? Ich hatte schon einen Beruf, ich will Malerin werden, nie werde ich eine Dame sein, nie einen Salon haben, nur deinetwegen bin ich dahin gegangen, dir zuliebe.»Es war eiskalt in der Kirche. Meine Hände froren, und es zerbrach mir das Herz, mein Kind so verzweifelt weinen zu sehen. Es stimmte, ich hatte sie nach San Giorgio geschickt.
    «Du bist dabei, einen großen Fehler zu begehen, Jacomo», hatte mir Episcopi an jenem verfluchten Tag gesagt, als Lucrezia geboren wurde,«du kleidest Marietta wie einen Jungen und glaubst, sie damit vor den Männern und sich selbst bewahren zu können. Doch damit führst du sie nur geradewegs an Männer heran, erziehst sie mitten unter ihnen. Noch merkt sie es nicht, ist unbefangen und spontan wie ein Junge, sie kennt die Koketterien und Blendereien der Frauen nicht, und gerade das macht sie so unwiderstehlich.»
Auf seine Art hatte mein Schwiegervater, seine Seele ruhe in Frieden, recht. Ich wollte aber, dass Marietta eine anziehende Frau wurde, Herr. Das feinste, gebildetste und bezauberndste junge Mädchen von ganz Venedig. Für mich. All das

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