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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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ich nicht kenne, verstehen Wahrheiten, von denen ich nicht die geringste Ahnung habe. Während ich jeden Tag umherirre, steuern sie geradewegs auf das einzig wahre Ziel zu - auf dich. Aus diesem Grund habe ich mich mühselig vom anderen Rand Venedigs hierhergeschleppt. Weil ich wollte, dass sie mir helfen, den Weg zu dir wiederzufinden. Ich wollte von ihnen begleitet werden - mein Körper war im Verfall begriffen, er verließ mich, und das machte mir Angst, Herr. Ich wollte, dass mir Perina mit ihrer ruhigen, sanften Stimme noch einmal von der Auferstehung und Erweckung in der Ewigkeit erzählte, denn wenn sie davon spricht, glaube ich daran - und habe keine Angst mehr.
    Meine Töchter aber wollten über uns sprechen, sie wollten mich so erleben, wie sie mich in Erinnerung hatten, so geistreich und witzig wie in ihren Vorstellungen. Daher nahm ich all meine Kräfte zusammen und versuchte, sie zu unterhalten. Ich erzählte, dass Marco in der Nacht zuvor beinahe ertrunken sei, da er zu tief ins
Glas geschaut habe, denn er sei, als er aus einem Haus kam, das er nicht hätte betreten dürfen, vom Ponte delle Tette ins Wasser gestürzt.«Oh», rief Schwester Perina rot vor Scham und rügte mich, solch kühne Worte in den Mund zu nehmen.«Zwei Janitscharen haben unseren heißblütigen Marco wieder aus dem Wasser gefischt und besinnungslos, wie er war, nach Hause getragen. Auf ihren Turbanen steckten Straußenfedern, die Krummsäbel saßen fest um ihre Hüften, und ihre Schnurbärte waren füllig wie Kehrbesen, dass sich euer Bruder Dominico auf der Stelle daranmachte, sie zu zeichnen, woraufhin sie ihn bedrohten, er habe nicht das Recht, ihnen einfach ihre Physiognomie zu stehlen, weswegen ich ihnen wiederum als Entschädigung einen Malvasier anbot, den sie noch nie gekostet hatten, sodass auch sie am Ende betrunken waren und, damit sie nicht in den Kanal plumpsten, von mir nach Hause gebracht werden mussten.»Hinter vorgehaltener Hand brachen meine Nonnen in herzliches Gelächter aus.
    «Liebster Vater, erzähl uns noch eine Geschichte», forderte mich Schwester Perina auf, doch ich war von solch unermesslichem Trübsinn erfüllt, dass mir nichts Witziges mehr einfiel und ich schwieg. Herr, wenn die Besucher verstummen und das Glockengeläut der nahe gelegenen Peterskirche verhallt, herrscht im Parlatorium des Klosters eine unglaublich tiefe Stille. Gedämpft nur dringen Geräusche und Stimmen der Stadt heran. Der Ruf eines Bootsführers, die Ambossschläge in einer Schmiedewerkstatt, ein quietschender Flaschenzug, das Eintauchen der Ruder ins Wasser - sie verhallen in weiter Ferne. Einzig das Kreischen einer Möwe, die auf der Dachgaube ihren Wachposten bezogen hat, erinnert noch daran, dass wir in Venedig sind. Vor geraumer Zeit hat mir Lucrezia einmal erzählt, dass man durch das breite Fenster ihrer Klosterzelle das Haus am gegenüberliegenden Ufer und seine Bewohner sehen könne - wie sie beim Abendessen um den Tisch sitzen und arbeiten, schlafen, leben - und darüber ein Stückchen Himmel, tagsüber blau und nachts pechschwarz. Nur einen einzigen
Stern gebe es an ihrem kleinen Himmelszelt. Blass und verschwommen - wahrscheinlich weit von der Erde entfernt.
    Meine Töchter werden Sankt Anna nicht mehr verlassen. Nie werden sie noch einmal etwas anderes sehen als ihre Klause mit den weißen Wänden, den Kreuzgang, das Refektorium, den Klostergarten, die Gemüsebeete, ihre Mitschwestern, Tag für Tag dieselben Gesichter, bis der Tod eines davon zu sich holt, den Kirchenchor, die Welt hinter dem Gitter - und ihren weit entfernten Stern. Wenn ich auf der Bank im Parlatorium vor meinen unsichtbaren, körperlosen Töchtern saß, die nur noch Stimme waren, habe ich mich so manches Mal gefragt, was ich machen würde, wenn ich in diesem Klosterkäfig eingesperrt wäre und wüsste, ihn selbst als Toter nicht mehr verlassen zu können. Wenn nur mein Geist frei, mein Körper aber in einem Habit und vier Wänden gefangen wäre. Jedes Mal sagte ich mir, dass ich einen Tunnel in die Erde graben, aufs Dach klettern oder selbst meine panische Angst vor Wasser überwinden und mich in den Kanal stürzen würde. Ich würde der Freiheit hinterherjagen, Herr - für die ich jederzeit mit meinem eigenen Leben bezahlen würde. Um die Freiheit zu verdienen, muss man bereit sein, sie zu verlieren. Ich brauche Geräusche um mich herum, Bewegung, Streit und Kampf. Allerdings bin ich keine Frau. Doch am Morgen jenes letzten Besuchs wurde mir auf

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