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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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sollte sie nur für mich sein. Und nun lehnte das bezauberndste Mädchen von ganz Venedig mit schiefer Krone auf dem Kopf, verquollenen Augen und blutverschmiertem Kleid an einem Kirchenpfeiler.«Jacomo, du bist wie eine Krankheit, die vor mir flieht», flüsterte sie niedergeschlagen.«Sobald ich dich berühre, weichst du aus. Betrete ich ein Zimmer, verlässt du es. Schaue ich dich an, siehst du blitzartig weg. Ich dachte, du hättest mich nicht mehr lieb.»
    Das Gemälde an der Orgel über uns schimmerte in den letzten Sonnenstrahlen. Feiner Goldstaub für mein auserwähltes Kind. Mein besudeltes Kind. Das Gittertürchen zur Empore stand noch offen. Der aufsteigende Weihrauch verbreitete einen herben Duft. Meine Kirche, menschenleer. Die einzigen Zeugen meiner Niederlage waren die Toten unter den Steinplatten, die Statuen und meine Gemälde.«Musst du mich töten?», fragte sie mich nach schier endlosem Schweigen mit verstohlenem Blick.«Nein, denn du wirst nicht mehr da sein», erwiderte ich und starrte auf den Tropfen Blut, der über ihre Lippen rann und wie ein Regentropfen auf die Erde fiel.«Wirst du mich von zu Hause rauswerfen?»«Ja», antwortete ich, denn mir blieb nichts anderes übrig.«Du musst deinen eigenen Weg gehen. Ich kann nicht mehr dein Vater sein. Leben meines Lebens. Mein einzigartiger Stern. »
    «Ich werde mir schon zu helfen wissen», sagte sie und zog die Nase hoch.«Du hast mir erklärt, dass das Wichtige im Leben nicht das ist, was die anderen über uns denken, sondern das, was wir sind. Du bist selbst mit siebzehn Jahren von zu Hause weggegangen. Immer wieder hast du gesagt, dass die Bilder, die ich male, einiges wert sind, also wird sie bestimmt irgendjemand kaufen wollen. Ich werde als Malerin arbeiten und mich an der Kunstakademie einschreiben. Und wenn ich nicht gut genug sein
sollte, werde ich eben Buchdeckel, Stoffe und Tücher bemalen. Außerdem kann ich Musik machen, das habe ich immerhin studiert, für Musik empfinde ich wahrhaftige Liebe, ich habe sie im Blut, ganz umsonst war es also nicht.»«Mein Funke», flüsterte ich,«warum hast du nur alles zerstört? Warum?»«Jacomo, lass mich wenigstens einmal für dich spielen», erwiderte sie. In ihrem luftigen weißen Stoffgewand stieg sie das schmale Treppchen zur Orgel hinauf - und ich, warum auch immer, folgte ihr.
    Die Bank war kurz - kurz wie die von San Giorgio. Man saß Schulter an Schulter, Knie an Knie, Seite an Seite und atmete dicht beieinander ein und aus. Das Manual sah viel zu lang aus für sie. Wenn nur Eure liebliche, blasse Hand. Ihre kleine Hand, die ein anderer … Meine arme Seele, zermartert in einer Kirche von der Musik, für die wir beide eine so große Leidenschaft besaßen, die man von Liebe nicht trennen kann, die stets unsere Sprache und unsere Stimme gewesen ist - die immer uns gehört hatte, uns. Mein Funke, der gar nicht weiß, wie man das Feuer in einem Mann entfacht. Und doch scheint sie wie für nichts anderes gemacht zu sein. Eine junge anziehende Frau, Herr.
    «Ich spiele das Exultet für dich», flüsterte sie. Kein Sakralgesang rührt mich mehr an als diese frohlockende Hymne der Erlösung. Und das wusste sie. Mariettas Tränen tropften auf das Manual und vermengten sich mit dem Blut, das noch immer aus ihrer Nase floss. Die Orgelmusik übertönte ihr Schluchzen und die Worte, die mir fehlten.«Das ist für dich», sagte sie immer wieder,«jede einzelne Note ist für dich.»Ich schaute auf die Weihrauchschwaden und ihre schmalen Finger, um schließlich den Kopf in meine Hände zu legen. Kein schlimmeres Leid.«Diese Liebeslieder habe ich», flüsterte sie auf einmal und hielt jäh inne,«ich habe sie nur für dich gelernt.»Und dann fing sie an zu singen, hier in meiner Kirche, über dem Grab meines Schwiegervaters, auf dessen Grabstein noch frischer Kalk lag, während ganz Venedig das siegreiche Kriegsende feierte. Meinen Krieg hatte ich jedoch verloren. Küsse
mich, mein einzig Leben. Zärtlichste Liebe. Ihr wisst um meine Liebe. Mein einzigartiger Stern.
     
    Meine Nonnen drückten ihre Köpfe ans Gitter. Zwei fahle Gesichter in schwarzen Schwesterntrachten vor hellen Lichtstreifen auf grauen Wänden. Es war heiß im Parlatorium. In verhaltener Anmut wischten sie sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie in ihren Wollkutten vor Hitze ersticken mussten. Nur mit einem Baumwollhemd bekleidet war ich bereits schweißüberströmt und rang nach

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