Tintorettos Engel
Luft. Fieber hatte meine Sinne benebelt. Von den vielen schlaflosen Nächten erschöpft, war ich völlig wirr im Kopf. Nur mit Mühe konnte ich einen klaren Gedanken fassen. Noch heute frage ich mich, ob unsere Nonnen tatsächlich unsere Schutzengel waren. Und warum sie dann nicht in der Lage gewesen sind, uns zu beschützen. Um ihren festen Glauben habe ich sie stets beneidet. Meine Töchter können dich sehen, Herr, mit dir sprechen - sie berühren dich sogar. Für sie bist du wahrhaftiger als wir, als ich.
Faustina wedelte sich mit dem Fächer Luft zu und plapperte drauflos, erzählte von dem neuen Enthaarungsmittel aus Ätzkalk, Akaziengummi und Ameiseneiern, das ihr gewisse Bekannte verkauft hätten und das Beine und Achseln glatt wie eine frisch geschälte Knoblauchzehe mache, sie habe es daher ihren Töchtern als Geschenk mitgebracht, denn mit leeren Händen, o nein, käme sie ja nie hierher. Sie wollte sich den Ärger über unseren dummen Streit auf keinen Fall anmerken lassen. Reumütig stupste sie mich hin und wieder mit dem Ellbogen an oder hielt mir den Fächer unter die Nase, suchte meinen Blick, meine Vergebung - aber, Herr, es gibt nichts, das ich ihr vergeben müsste.
Wenn sie zu Besuch kommt - einmal in der Woche -, bringt sie den Mädchen ausschließlich erfreuliche Nachrichten. Schwester Perina und Schwester Lucrezia halten uns für die vollkommene christliche Familie, die auf gegenseitiger Achtung und Liebe gründet.
Ich bin mir nicht sicher, ob sie ihnen von Zuane erzählt hat oder ob unsere Nonnen noch immer glauben, er halte sich außerhalb Venedigs auf. Seitdem sie das Habit tragen, dürfen sie die Klausur nicht mehr verlassen. Nie wieder sind sie bei uns gewesen, weder an für uns glücklichen noch an schrecklichen Tagen. Alles, was wir erlebt haben, hat sie kaum berührt - und das ist richtig, sind wir doch in gewisser Hinsicht nicht mehr ihre Familie. Unsere Erlebnisse kommen in geläuterter Form bei ihnen an. Im Grunde besitzen wir nicht den Mut, ihnen auch nur das kleinste Leid zuzufügen. Ohne uns je darüber ausgetauscht zu haben, hatten meine Frau und ich den Eindruck, dass sie bereits für alles ihren Preis gezahlt haben - den Rest der Schuld müssen wir auf uns nehmen.
Im Übrigen ist es ein Irrtum anzunehmen, dass sich zwei junge Frauen, die sich der Kontemplation der geistigen Schätze verschrieben haben, gern mit ihrem alten Vater über die Sünde oder die Vorsehung unterhalten möchten. Sie wollten vielmehr wissen, wann wir nach Carpenedo fuhren, ob die Sau des Pächters geworfen habe, ob es stimmte, dass wir vom Nachbarn den Wintergarten angemietet hätten, denn dann könnten wir ein paar Töpfe hineinstellen und das ganze Jahr über frisches Basilikum ernten. Lauter solche Dinge, Herr. Dinge aus unserem jämmerlichen Alltagsleben. Das meine Nonnen nicht haben. Sie zehren von den Krümeln unseres Lebens - den Resten unserer Mahlzeiten. Was bedeutet schon Zeit für sie? Nichts weiter als die ewige Abfolge der Jahreszeiten. Während ich ihnen gegenübersaß und sie anschaute, habe ich sie zum ersten Mal gesehen, diese Jahreszeiten, die meine Töchter erlebt haben - in Sankt Anna und ohne mich.
Ich sah den Regen im Herbst, der durch das faule Gemäuer und die feuchten Decken dringt und lauter Schnörkel und Landschaften an die Wände zeichnet; die zu kurzen Tage, die zu früh hereinbrechende Dunkelheit und neben den Betten den Schimmer der
sich verzehrenden Kerzen, bis die Augen vom Lesen zu brennen anfangen, als wäre ein Funke hineingesprungen. Die erdrückende Hitze im Sommer, die das Parlatorium in ein glühendes Kohlenbecken und die Wollkutte in einen Mantel aus Feuer verwandelt, das die Haut verbrennt und aufreißt. Die Eiseskälte, von der die Finger schwarz anlaufen, wenn sie im Winter mitten in der Nacht aufstehen, um in der Kirche, einem regelrechten Haus aus Eis, die Matutin zu beten. Die Sonne, die bei Frühlingsbeginn die Schlafkammern hell erleuchtet, die auf blühenden Wildrosen im Garten und die Störche, die aus dem Süden zurückkehren und sich einen Moment lang im Gemüsegarten auf den Zitronenbaum setzen. Die Zeit hat keine Richtung, birgt keine Überraschungen. Was erwartet meine Töchter? Für sie ist das Leben wie der Traum eines anderen. Und er erscheint ihnen besser, als er ist.
Ich wollte mit Schwester Perina und Schwester Lucrezia über die Seele, den Tod und die Ewigkeit sprechen. Denn meine Töchter sind erfahren. Sie studieren. Lesen Bücher, die
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