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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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einen oder anderen war ich sogar befreundet. Doch meine Wahl fiel auf einen Fremden. Er arbeitete seit Kurzem als Organist in San Giorgio Maggiore. Schon bald galt er allenthalben als wahrhafter Virtuose. Dieser Mann hatte die flinksten Finger und den sanftesten Anschlag, den ich je gehört hatte. Seiner göttlichen Musik lauschen zu dürfen, die er höchstpersönlich komponiert hatte, bedeutete, sich in einen Zustand fern aller fleischlichen Dinge, allen Leids und des profanen Lebens zu erheben. Eine himmlische, übersinnliche Musik - nur Engel können so spielen. Seine Konzerte in San Giorgio zogen Massen von Menschen an, und umgehend baten ihn die Adeligen um Privatstunden für ihre Kinder. Einem solchen Engel, um den sich selbst Venedigs feinste Gesellschaft bemühte, vertraute ich bedenkenlos meinen Funken an.
    Der Maestro sagte mir, er habe noch nie eine Schülerin gehabt und strebe dies auch nicht unbedingt an, da Frauen doch immer nur alles durcheinanderbrächten, obendrein musikalisch nicht sonderlich begabt und daher reine Zeitverschwendung seien. Ich erklärte ihm, dass meine Marietta nicht wie die anderen Mädchen, sondern etwas ganz Besonderes sei, sich wie ein Junge kleide und sämtliche Tugenden der Männer, jedoch nicht deren Fehler besitze. Am Ende willigte er ein, nachdem ich mich bereit erklärt hatte,
genauso viel zu zahlen wie die Prokuratoren und Regierungsmitglieder für den Unterricht ihrer Zöglinge. Normalerweise gab er die Privatstunden entweder bei sich zu Hause, drei Brücken von uns entfernt, oder im elterlichen Haus seiner Schüler: Leider besaßen wir keine Orgel, die ich mir derzeit auch nicht leisten konnte - außerdem wäre gar kein Platz dafür gewesen. Aus Anstand und Sitte und aus Rücksicht auf unser beider Ansehen erschien es daher angebracht, die Unterrichtsstunden der Schülerin, wenngleich als Junge verkleidet, in der Kirche abzuhalten.
    Marietta ging also in die Kirche San Giorgio Maggiore zum Musikunterricht. Dominico, der ihr seit Jahren nicht von der Seite wich und mir berichtete, was sie tat, wenn ich sie nicht sehen konnte, begleitete sie. Kaum war sie wieder zu Hause, erzählte sie mir bis ins kleinste Detail von den einstudierten Liedern. Ave Regina coelorum. Liberator animarum. Sicut lilium inter spinas. Hodie beata Virgo Maria. Inviolata, integra et casta . Sie deutete einige Stücke an, sang den einen oder anderen Vers vor und führte auf dem unechten Manual, das ich ihr auf einen Tisch aus Zypressenholz aufgemalt hatte, Fingerübungen durch. Zu meiner großen Zufriedenheit schien sie schnell Fortschritte zu machen.
    Am neunzehnten Oktober traf völlig unerwartet die Nachricht in der Stadt ein, dass der Krieg zu Ende sei. Die Heilige Liga hatte in Lepanto die türkische Flotte zerschlagen. Wie ein Wirbelsturm, der abrupt die Richtung ändert, hatte sich die mohammedanische Bedrohung von uns abgewandt. Venedig spielte vor Freude verrückt. Zum Hochamt mit Te Deum in der Markusbasilika erschienen Tausende. Drei Tage lang läuteten die Glocken, die Läden blieben geschlossen, Feuerwerke ließen den Himmel erstrahlen, und auf jedem Platz wurde ein Freudenfeuer entzündet. Unsere Soldaten und die Kapitäne marschierten mit den Flaggen der feindlichen Schiffe durch die Stadt. Gedichte, Gebete, Kantaten und Chorgesänge wurden komponiert. In Gedenken an die gefallenen Mitbürger wurden Hunderte von Messen gefeiert. Die
Stadt war wie im Fieber. Es war mit den Händen greifbar, dass nach den Hungersnöten und der Bedrohung durch unsere Feinde, und nachdem der Staat beinahe bankrott gegangen war, wir irgendetwas Unerhörtes tun mussten. Herr, wir mussten den Sieg wahrhaftig werden lassen, verstehst du?
    Mein ehrgeiziger Schwager erzählte mir von der Idee seiner als Kaufmänner und Juweliere tätigen Freunde aus der Bruderschaft. Zur Erinnerung an den Sieg wollten sie am letzten Karnevalssonntag einen von Musik begleiteten Umzug organisieren. Sollte das Spektakel ein prunkvolles, bilderreiches und triumphales Ereignis werden, würde die Schule - die derzeit aufgrund von wiederholten Skandalen in Ungnade gefallen war und daher ein Schattendasein führte - in der Gunst des Volkes und der Regierung wieder steigen. Die Vorstellung erschien mir verlockend. Auch ich wollte bei der Regierung mein Ansehen aufpolieren und mir außerdem das Siegesgemälde für den Dogenpalast sichern. Dieses Jahrhundertereignis durfte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen.
    Ich wurde zum Maestro

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