Tintorettos Engel
einmal bewusst, dass ich das Eingeschlossensein bestens kannte. Wie wir alle. Unsere Körper sind in einem Habit, einer Rolle und vier Wänden gefangen. Mein Gefängnis war Venedig, mein Leben und mein Name.
«Danke für die Kirschen, lieber Vater, aber du hättest nicht diesen langen Weg auf dich nehmen sollen, du siehst schrecklich müde und erschöpft aus», redete Schwester Perina leise auf mich ein. Da sie gern von mir gestreichelt werden wollte, rückte sie mit ihrem Gesicht ganz nah ans Gitter heran. Sie hielt die Augen geschlossen, während ich sie sanft mit den Fingerspitzen berührte.
Obschon sie fast dreißig Jahre alt ist, bleibt sie für mich das kleine vierzehnjährige Mädchen, das ich mir mühelos wie einen jungen Stiel aus seiner fruchtbaren Erde entrissen habe. Seit meinem letzten Besuch habe ich nur noch dieses Lächeln von ihr vor Augen, als meine Finger über ihre Wange streiften. Über Jahre hinweg erfüllte mich der Besuch bei ihr mit Genugtuung, war doch Perina von meinen Töchtern zeitlebens die frömmste, Jesus vollends ergeben und nun eine glückliche Nonne. Sie war das erste Mädchen aus meiner Ehe mit Faustina. Sie hatte einen makellosen Körper und erfreute sich bester Gesundheit. Dank ihres gefügigen und aufrichtigen Wesens hätte sie jeder, eine gewisse Aussteuer vorausgesetzt, mit Kusshand genommen. Wenn ich in meinem Gedächtnis nach den weit entfernten Tagen krame, in denen Schwester Perina noch Gerolima hieß und bei uns lebte, sehe ich lediglich ein pummeliges kleines Mädchen mit Mondgesicht, das wie eine gluckende Henne auf ihre Brüder und Schwestern aufpasste. Sie war sanft, daran erinnere ich mich genau - und klug. Vielleicht sollte ich einfach anerkennen, dass sie gutmütig war. Eine Eigenschaft, die wir anderen nicht besaßen.
Gerolima brachte ich das Malen nicht bei. Sie malte meine Bilder heimlich nach. Da ich eine Ausnahme bereits gemacht hatte, war eine zweite nicht mehr möglich. Es kann nur eine Auserwählte geben. Nicht wahr? Steht nicht der launische Frevel eines Privilegs eigens für die Autorität dessen, der es erteilt hat? Steht er nicht eigens für dich, Herr? Wenn sie mir ihre Bilder zeigte, sagte ich ihr weder, dass sie gut (und das waren sie), noch, dass sie schlecht seien. Sie zerknüllte sie und warf sie ins Kaminfeuer.«Warum darf ich nicht malen?», fragte sie mich.«Weil jeder sein eigenes Schicksal hat», antwortete ich ihr.«Außerdem habe ich bereits drei Jungen. Ein Mädchen, das Malerin werden will, kann ich nicht gebrauchen.»«Und sie ?», raunte sie, ohne mich anzuschauen.«Marietta hat keine Mutter, sie hat niemanden außer mir, die Malerei ist das Einzige, was ich ihr mit auf den Weg geben
kann.»«Schade», erwiderte sie mit gebrochener Stimme,«aber ich werde das tun, was du verlangst, Papa. Ich werde dir keine Schande machen.»Gerolima ertrug ihren Verzicht in christlicher Demut - mit keiner einzigen Silbe ging sie gegen Marietta an. Wahrscheinlich war sie zu gutmütig für ein Gefühl wie Eifersucht.
«Du wirst heiraten», verkündigte ich ihr eines Nachmittags, als sie mir einen Krug Limonade mit Eiswürfeln in die Werkstatt brachte - völlig unerwartet, damit sie sich nicht darauf einstellen konnte. Gerolima hätte stolz sein müssen: Ihr Bräutigam überragte in Schönheit, Güte und Reichtum alles, was sie sich in ihren kindlichen Träumen jemals hat vorstellen können, denn ihr Bräutigam war Jesus Christus. Ich hatte in Sankt Anna einen Antrag um Aufnahme gestellt. Gerolima wusste genau, dass der Eintritt in ein Kloster wie dieses, das ausschließlich von jungen Mädchen aus den erlesensten Familien der Stadt besucht wurde, eine große Anerkennung meiner Mühen darstellte. Die vorzulegende Aussteuer belief sich auf eine höchst beachtliche Summe, die ich gern auf mich nahm, erfuhr doch dadurch ganz Venedig, dass ich mich einer Tochter rühmte, die sich Gott in den Dienst stellte. Der Antrag wurde genehmigt.
Meine Tochter sah mich mit entsetzten Augen an.«Ich will nicht nach Sankt Anna», erklärte sie.«Ich habe dich nicht um deine Meinung gebeten», stellte ich umgehend klar.«Eine Nonne verliert ihre Familie, ihre Stadt, ihren Körper, sogar ihren Namen», protestierte sie mit leiser Stimme.«Deine Gedanken enttäuschen mich zutiefst, Gerolima», beklagte ich mich, während ich meinen Bart säuberte und das Glas entgegennahm,«ich dachte, ich würde dir damit eine Freude machen. Ich dachte, du würdest dich freuen, von
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